Der Sommer auf Usedom
fünfzig oder sechzig Jahre alt sein. Jasmin freute sich über ihre Entdeckung, denn dieses antike hölzerne Transportmittel würde auf ihrem Gemälde ein hübsches Detail abgeben. Nach erneuter Prüfung der Szenerie entschied sie, ganz um die Fischerhäuschen herum bis an das Ufer der kleinen Landspitze zu gehen. Dann konnte sie zwar nicht das Festland, dafür aber Usedoms Küste und den Kleinen Rohrplan als Hintergrund nutzen. Sie ging bis ans Wasser und holte ihren Bleistift hervor. Da sah sie ein Motorrad, das an der Wand einer Hütte lehnte. Es wirkte wie ein Objekt aus einer anderen Welt. Nein, wenn sie Gegensätze sonst auch mochte, würde sie das Motorrad nicht verewigen. Es war zu dynamisch inmitten dieser Ruhe, zu technisch für das Gemälde, das ihr vorschwebte. Hatte sie eben noch das Gefühl gehabt, allein und ungestört an diesem Platz zu sein, schlich sich nun Unbehagen in ihren Bauch, ganz leicht zuerst. Es war das diffuse Empfinden, ein Fremder sei ganz in der Nähe, jemand, mit dem sie gewissermaßen alleine war. Ihre Sinne waren mit einem Mal sensibler als sonst, sie hörte ein ersticktes Klappern, das aus einem der Häuschen drang, da war sie sicher. Ihr Unbehagen wuchs. Vielleicht sollte sie besser verschwinden. Der Wicht, der das Segelschiff bewacht hatte, war nach anfänglichem Schimpfen irgendwie entzückend gewesen. Sie konnte allerdings nicht darauf vertrauen,dass derjenige, der hier wohnte oder etwas zu tun hatte, das ebenfalls war.
Mit schnellen Strichen bannte Jasmin ihre Umgebung auf das Papier und machte sich Notizen, um später die richtigen Farben zu wählen. Sie beeilte sich, blickte konzentriert auf ihr Papier und dann wieder auf die Buden, den Steg, das Wasser, den Schilfhaufen und den Trampelpfad, der vom Feld kommend bis zu dem Eingang der ehemals roten Hütte führte. Das sonst recht hohe Gras sah aus, als sei es gerade erst niedergetreten worden. Wieder blickte sie auf und bekam eine Gänsehaut. Da hatte sich etwas bewegt, am Fenster der roten Hütte. Jemand war da drin, jemand, der sich eilig zurückgezogen hatte, als sie aufgeschaut hatte. Als ob er etwas zu verbergen hätte. Sie schluckte, überlegte, ob sie ihr Skizzenbuch wegstecken und nach Hause fahren sollte. So ein Unsinn, sagte sie sich. Das war ein sehr kleines Holzhaus. Wenn ein Fischer dort seine Netze oder Angeln aufbewahrte, dann war er ständig am Fenster zu sehen, sobald er dort drinnen etwas zu tun hatte. Wahrscheinlich räumte er auf oder bereitete einen Angelausflug für Touristen vor. Alles völlig harmlos. Sie zeichnete letzte eilige Striche auf das Blatt, verstaute dann alles in ihrer Tasche und lief an dem gebündelten Schilf vorbei, ein Kribbeln im Nacken, zu ihrem Auto zurück.
»Du wirst nicht glauben, was ich in der Zeitung gelesen habe!« Gabi trug eine weite Leinenhose und eine überraschend feminine ärmellose Bluse, die im Nacken gebunden war.
»Bitte kein Horoskop!« Jasmin schnaufte gespielt angestrengt. Statt für die Zeitung interessierte sie sich vielmehr dafür, warum ihre Freundin sich so schick gemacht hatte. Ob sie mal wieder ausgehen würden? Sie legte die Tüte aus dem Souvenirshop auf den Tisch und ließ sich auf das halbrunde Sofa fallen, das den Mittelpunkt des Wohnzimmers bildete.
»Von wegen Horoskop. Hier!« Gabi schnappte sich die Tageszeitung und wedelte damit in der Luft herum. Während sie noch den Artikel suchte, erklärte sie: »Die Leiterin des Kunsthandwerker-Ateliersin der Seestraße in Bansin hat bei der Polizei angefragt, ob sie einen besonderen Schutz in Anspruch nehmen könne.« Eben war Jasmin noch erledigt von dem langen und durchaus ereignisreichen Tag in Peenemünde, doch nun wurde sie augenblicklich aufmerksam. »Die erwartet nämlich eine Lieferung von einem total angesagten Bildhauer. Warte mal …« Gabi blätterte, dann hatte sie die richtige Seite endlich gefunden. »Genau, hier steht, sie erwartet eine Skulptur von Moritz Moroni. Sagt dir der Name etwas?«
Jasmin war außer sich. »Moritz Moroni? Natürlich sagt mir der Name etwas. Das ist der bedeutendste zeitgenössische Künstler, den wir überhaupt haben. Er stellt Plastiken aus einem ganz eigenen Materialmix von Papier und Stein her. Absolut umwerfend!«
»Aha«, gab Gabi eher unbeeindruckt zurück. »Der heißt doch nicht wirklich so, oder?«
»Doch!«
»Ja, schon, aber es ist ein Künstlername. Den hat er sich doch ausgedacht, oder nicht?«
»Was spielt denn das für eine Rolle?« Jasmin
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