Der Sommer auf Usedom
acht Jahre sein, der Junge höchstens vier. Mit großen Augen hörte der Knirps den Anweisungen seiner Schwester zu und machte sich dann daran, diese umzusetzen. Er klopfte die Umrandung des Gebäudes fest, das mit seinen vier Türmen sehr an den Seebrückenpavillon erinnerte. Seine Schwester korrigierte oder lobte ihn, je nachdem, was sie für angebracht hielt. Sie gingen ausgesprochen liebevoll miteinander um und waren derartig in ihr Tun vertieft, dass sie nicht einmal bemerkten, wie Jasmin sie beobachtete. Sie ging weiter. Zwei Mädchen kamen in ihr Blickfeld, die sich lautstark um irgendein elektronisches Spielzeug zankten. Es mochte Ausnahmen geben wie die beiden Sandburgenbauer, aber im Großen und Ganzen waren Kinder nun einmal nicht friedlich und sanft. Ein Leben ohne diese kleinen Plagegeister war erheblich entspannter, redete sie sich ein. Dann musste Jasmin an Gabis Worte denken. Dass sie nicht verheiratet war, lag tatsächlich nicht daran, dass sie nicht wollte. Auch Kinder hätte sie gern, wenn sie ganz ehrlich war. Im Grunde war Jasmin ein romantischer Typ. Sie wünschte sicheine Hochzeit in Weiß, vielleicht an einem malerischen Ort wie diesem. Sie blieb stehen und blickte zur Seebrücke. Sie stellte sich vor, wie sie dort stand in einem Kleid mit langer Schleppe, der Wind würde mit ihrem Schleier spielen, die Sonne scheinen wie jetzt. Sie seufzte. Dann stellte sie sich Carsten, ihren letzten Verflossenen, als Bräutigam vor. Es war, als schiebe sich eine fette Regenwolke vor die Sonne. Sie probierte es mit Volker. Nein, das funktionierte auch nicht. Die Liste ihrer Exfreunde war nicht unendlich lang, aber beschränkte sich auch nicht auf Volker und Carsten. Dummerweise war keiner darauf zu finden, mit dem das Bild des glücklichen Hochzeitspaares perfekt gewesen wäre. Natürlich nicht, sonst hätte sie sich nicht immer wieder trennen müssen. Sie blickte aufs Meer, auf die Wellen, die kraftvoll und gleichmäßig auf das Land rollten. Was stimmte nur nicht mit ihr, dass ihre Beziehungen noch nie länger als ein Jahr gehalten hatten? Noch einmal sah sie hinauf zu dem Restaurantpavillon, malte sich aus, wie all ihre Freunde an runden Stehtischen Sekt auf ihr Wohl tranken. Ob der namenlose Dieter als Bräutigam in ihrer Vorstellung bestehen konnte? Nein, das war natürlich Unsinn, er war ein Urlaubsflirt. Höchstens. Mit einem Mal wurde ihr abwechselnd heiß und kalt. Sie hatte vollkommen die Zeit vergessen. Gerade drei Uhr. Jasmin war erleichtert, alles in Ordnung. Sie ging langsam zwischen Düne und Brücke auf den Vorplatz zu, ihre Nervosität hielt sie sorgfältig hinter ihrer Sonnenbrille versteckt.
Da war er. Er trug ein weißes Hemd zur Jeans und ging gerade am berühmten Ahlbecker Hof vorbei, auf dessen Terrasse sich Palmen in großen Terrakottatöpfen im Wind wiegten. Mit seinem federnden Gang, dem gerade so weit geöffneten Hemd, dass es nicht albern, sondern ziemlich sexy aussah, wirkte er umwerfend lässig. Sie hatte schreckliches Lampenfieber. Da half nur eins: nicht lange zögern, sondern hingehen und das Eis brechen. Flucht wäre ohnehin keine Lösung mehr gewesen, denn er hatte sie gerade entdeckt.
»Hallo! Schön, dass Sie gekommen sind.«
»Sie haben versprochen, sich etwas ganz Besonderes einfallen zu lassen. Das konnte ich mir doch nicht entgehen lassen.«
»Sie sehen toll aus, das Kleid steht Ihnen sehr gut.«
»Danke schön.« Jasmin freute sich. Ihre Nervosität löste sich spürbar auf.
»Sind Sie bereit für unseren Ausflug?«
Sie runzelte überrascht die Stirn. »Ich dachte, Sie wollten mir etwas über Ahlbeck und die Seebrücke erzählen.«
»Später. Mir ist etwas viel Besseres eingefallen. Schlüpfen Sie in die Schuhe, wir haben einen langen Spaziergang vor uns.«
Sie hockte sich auf das niedrige Mäuerchen direkt vor der Standuhr, die bestimmt schon hundert Jahre alt war. Sorgsam wischte sie sich den Sand von den Füßen. Dabei überlegte sie, ob sie sich auf einen Gewaltmarsch einlassen oder protestieren sollte. Ihm war anzusehen, wie sehr er sich auf den Ausflug, wie er sich ausgedrückt hatte, freute. Jasmins Freude hielt sich in Grenzen. Sie hatte die Riemchensandalen mit dem Absatz nur gewählt, weil sie davon ausgegangen war, nicht viel laufen zu müssen. Die Schuhe sahen toll aus, waren für lange Wege allerdings nicht geeignet.
»Was verstehen Sie unter einem langen Spaziergang?«, fragte Jasmin, als sie den zweiten Fuß penibel von Sandkörnchen
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