Der Sommer deines Todes
Wieder steigen ihm Tränen in die Augen, doch er wird erst heulen, wenn er seine Mutter wiedersieht. So wie er sie kennt, wird sie ihn bei ihrem Wiedersehen sogar zum Weinen ermuntern, denn sie vertritt die These, dass man seine Gefühle nicht verstecken darf.
«Mit wem telefoniert der Typ vom FBI ?», fragt er Mac.
«Mit der Polizei, denke ich.»
Die Nachricht beunruhigt ihn, zumal er inzwischen mitgekriegt hat, dass man den hiesigen Bullen nicht trauen kann. «Keine gute Idee», sagt er zu Mac und erzählt ihm von diesem alten Knacker mit den weißen Haaren, dem Polizeichef, der eng mit der Frau befreundet ist, die seine Mutter Liz nannte. Bei dem Gedanken an seine Mutter, die sich seinetwegen bestimmt große Sorgen macht, wird ihm ganz mulmig.
«Karin hat mir schon von dem Polizeichef erzählt.»
«Sie weiß Bescheid?»
«Sie war von Anfang an misstrauisch, und Dathi hat ihren Verdacht bestätigt.»
«Sie ist bei Dathi!», ruft Fremont erleichtert.
«Hier auf der Insel gibt es mehrere Polizeibehörden, Free. Der alte Mann mit den weißen Haaren ist Chef der regionalen
Polizia di Stato
. Wir werden von den Carabinieri, der Militärpolizei, unterstützt, die landesweit und regional ermittelt. Das FBI hat sich für sie verbürgt und den Kontakt hergestellt. Jetzt kommt alles in Ordnung.»
«Bist du dir da sicher?»
«Eigentlich schon.»
«Fuck, wenn du dich da mal nicht täuscht.»
«Also, wegen mir musst du keine Kraftausdrücke benutzen», meint Mac, woraufhin sie in Gelächter ausbrechen. «Free, kannst du mir den Ort beschreiben, wo man euch eingesperrt hat?»
«Das war ein kleines Haus am Strand. Auf unserer Flucht sind Dathi und ich eine lange Straße hinuntergerannt. Straßenschilder habe ich erst in der Nähe von Olbia gesehen … Dem Verkehr nach zu urteilen eine größere Stadt. Es hat jedenfalls eine ganze Weile gedauert, bis der erste Wegweiser auftauchte. Da wir nach Süden getrampt sind, muss das Haus irgendwo nördlich von Olbia sein. Danach haben wir beschlossen, uns tagsüber zu verstecken.»
In dem offenen Cabrio gibt es keinen Schutz vor der Mittagssonne, aber der kühle, salzige Fahrtwind lindert die Hitze. Wären wir von Orosei direkt nach Norden gefahren, hätten wir höchstens ein paar Stunden bis San Teodoro gebraucht, doch da wir unser Ziel nicht kennen und kreuz und quer durchs Land fahren, hat sich die Fahrzeit verdreifacht. Irgendwo am Strand. Leichter gesagt als getan. Sardinien besteht im Grunde genommen nur aus Küste, an der ein Strand dem anderen folgt.
Irgendwo am Strand
kann praktisch überall sein. Während wir ziellos durch die Gegend fahren, vertraue ich darauf, dass Dathi den Ort erkennt, wenn sie ihn sieht. Und so klappern wir jede unbefestigte Straße ab, fahren immer wieder in Sackgassen, steigen aus und erkunden die Gegend zu Fuß. Nichts.
Doch dann erregt etwas ihre Aufmerksamkeit.
«Dort!» Sie zeigt auf einen Pfosten mit fünf blauen und zwei braunen Schildern, von denen bis auf zwei alle in dieselbe Richtung weisen. «In der ersten Nacht unserer Flucht sind wir an dieser Kreuzung vorbeigekommen.»
Sieben Schilder, sieben Möglichkeiten. «Weißt du noch, aus welcher Richtung ihr damals gekommen seid?»
«Ja, von hier: Olbia.» Sie deutet auf das oberste Schild, das uns nach links dirigiert.
Ich verlasse den schmalen Küstenweg und gebe auf der frisch asphaltierten Straße Gas. Wir folgen den Schildern durch verwinkelte Gassen ins Zentrum von Olbia. In dem Örtchen, das kleiner und moderner als Cagliari ist und deutlich mehr südländisches Flair besitzt, wimmelt es nur so von Touristen, Geschäften und Restaurants. Olbia liegt nur eine Dreiviertelstunde südlich von Liz Brauds Hotel bei Palau. Zwischen den beiden Städten kann man ohne großen Zeitaufwand hin- und herpendeln, was mich optimistisch stimmt und mein Herz höher schlagen lässt.
Werden Ben und Mary irgendwo in Olbia gefangen gehalten?
Irgendwo am Strand.
Am liebsten möchte ich schreien, um mich schlagen, flennen.
Ich brauche Ben
, vermisse seinen Geruch, möchte seine Wange auf meiner spüren. Falls wir ihn nicht bald finden, verliere ich den Verstand.
Ich zwinge mich, tief durchzuatmen.
Die aufkeimende Panik in Schach zu halten.
Mich nicht aus dem Konzept bringen zu lassen.
Ruhe zu bewahren.
Mac beobachtet, wie sich Fremont die Nase am Hubschrauberfenster platt drückt und angespannt die unter ihnen liegende Landschaft betrachtet, die einem abstrakten Gemälde in
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