Der Sommer der Frauen
dem Stand der Dinge erkundigte. June fühlte sich durch Marleys Mitgefühl wenigstens ein bisschen getröstet. Oder zumindest verstanden. Seit dem Tag, als sie Charlie kennengelernt hatte, befand Marley sich im Mamamodus. Sie machte Listen, versuchte, die beste Wiege für ihr Kind zu finden, und las ihr Schwangerschaftsbuch. June hatte in Marley eine echte Freundin gefunden, und wenn sie darüber nachdachte, wie unerwartet dies geschehen war, wurde ihr klar, dass
alles
möglich war. Von den Smiths zu hören. John zu finden. Doch noch eine Familie zu werden.
Sie ging hinein, um nach Charlie zu sehen und um sein niedliches Gesicht zu betrachten. Ihr Blick fiel auf das Plakat mit dem Stammbaum über dem Bett. Noch immer nichts Neues.
Als sie zurück ins Zimmer kam, sah sie, dass Isabel nicht in ihrem Bett lag. War sie während der zwei Minuten, die June nicht da gewesen war, aufgestanden? Oder war ihr Bett schon leer gewesen, als June aufgewacht war? Kat war im Tiefschlaf und lag so nah an der Bettkante, dass ihre langen blonden Haare heraushingen. June verspürte den Drang, sie ein bisschen weiter ins Bett zu schieben, so wie sie es mit Charlie machte, wenn er mal wieder gefährlich nah am Bettrand lag. Wie oft war sie nachts schon von heftigem Poltern aufgewacht. Aber Kat war erwachsen, und June war sich ziemlich sicher, dass man sich keine Sorgen machen musste, dass eine Erwachsene nachts plötzlich aus dem Bett fiel.
Sie warf einen Blick auf Isabels leeres Bett. Die mit Bojen verzierte blassblaue Bettwäsche war zerwühlt, als hätte sich ihre Schwester die ganze Nacht hin und her gewälzt. Isabel war am Vorabend so still gewesen. Sie hatte für die Familie das Abendessen gekocht, drei Sorten Pizza mit interessantem Belag, als hätte sie das Bedürfnis gehabt, sehr viel Gemüse zu schnipseln und sich mit dem Befolgen eines besonders komplizierten Rezepts abzulenken. Sie hatte sämtliche Hilfsangebote abgelehnt und war durch nichts zu trösten gewesen – nicht durch die Versicherung, dass so etwas jedem hätte passieren können und dass das für Griffin sicher nicht das erste Mal gewesen war – nicht das erste Mal, dass Alexa versprochen hatte, auf ihre kleine Schwester aufzupassen und es dann nicht getan hatte. Und auch nicht das erste Mal, dass Emmy plötzlich weg war. Doch Isabel hatte lediglich mit versteinertem Gesicht darum gebeten, in Ruhe gelassen zu werden. Sie hatte alle zu Tisch gerufen und war dann, ohne mitzuessen, nach oben verschwunden. Als June und Kat später mit einem Teller Pizza in ihr Zimmer gekommen waren, hatte sie so getan, als ob sie schliefe. June war sich sicher, dass ihre Schwester die ganze Nacht kein Auge zugetan hatte. Sie schaute zum Fenster hinaus, um nachzusehen, ob Isabel vielleicht mit Happy spazieren ging, konnte sie aber zwischen all den frühmorgendlichen Joggern und Gassigehern im Hafen nicht entdecken. Dann trat June an das kleine Fenster, das auf den Garten hinausging, und da war sie: Isabel saß auf dem großen flachen Felsen, auf dem alle Kinder so gerne kletterten und spielten. Die Knie angezogen, die Arme um die Beine geschlungen, eine Tasse neben sich. Happy lag neben dem Felsen und nagte an einem Knochen, sprang plötzlich auf und jagte einem weißen Schmetterling nach.
June eilte in T-Shirt und Pyjamahose die Treppe hinunter. In der Küche machte sie Halt, um sich eine Tasse Kaffee einzuschenken und zwei Muffins aus der großen Vorratsdose zu nehmen, auf die Kat ISS MICH ! geschrieben hatte.
«Na?», sagte June, setzte Tasse und Muffins auf dem Felsen ab und kletterte neben ihre Schwester.
Isabel sah sie aus rotgeränderten Augen kurz an und ließ den Blick zu den Bäumen schweifen. «Na.»
«Was da gestern passiert ist, sagt nichts über dich, Isabel. Ich hoffe, das weißt du.»
«Es sagt sehr wohl was über mich. Edward hat mir irgendwann mal an den Kopf geworfen, ich würde sowieso nicht als Mutter taugen, weil es mir völlig an Beschützerinstinkt mangeln würde. Es ist wahr. Ich wäre wahrscheinlich eine miserable Mutter.»
«Edward hat sich ja wohl als Vollidiot erwiesen, Izzy. Er liegt völlig falsch. Ich könnte auf Anhieb fünfundzwanzig Beispiele nennen, in denen du in den paar Wochen, seit wir hier sind, sehr viel Mutterinstinkt bewiesen hast. Du wärst eine tolle Mutter!»
«Nenn mir zwei», sagte Isabel düster.
«Zum Beispiel die Art, wie du mit Charlie umgehst. Erstens, wie du ihm gesagt hast, er könnte alle am Tisch in seinen Stammbaum
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