Der Sommer der Frauen
Inhaltsübersicht]
19. Isabel
I sabel schob einen mit Paletten voll rosaroter, weißer und dunkelroter Pfingstrosen beladenen Einkaufswagen von der kleinen Gärtnerei am Ende der Straße nach Hause und stellte sich vor, wie die großen, prächtigen Blüten die Beete unterhalb der weißen Veranda säumen würden. Lolly liebte es, auf der Hollywoodschaukel ihren Morgentee zu trinken, wenn sie genügend Kraft hatte, um aufzustehen. Oft saßen sie morgens zusammen da draußen, Arm in Arm, und tranken Tee, während Isabel ihrer Tante von den Neuigkeiten aus der Pension berichtete, ihr von Buchungen und Gästen erzählte oder kleine Anekdoten aus dem Aufenthaltsraum zum Besten gab. Seit ihrer Rückkehr aus dem Krankenhaus war Lolly kaum noch vor die Tür gekommen, aber an diesem Morgen hatte sie sich zu Isabel auf die Veranda gesetzt und ihr gesagt, wie stolz sie auf alles war, was Isabel in der Pension leistete, und auch, dass sie das Gefühl hätte, es sei Isabel bestimmt gewesen, nach Boothbay Harbor zurückzukehren und im Three Captains’ Inn das Ruder zu übernehmen. Als Isabel ihr daraufhin gestand, dass es ihr genauso ging, hatten sich die Augen ihrer Tante mit Tränen gefüllt, und sie hatten einander so innig umarmt wie noch nie. Dann hatte Lolly auf einmal von Pfingstrosen gesprochen und Isabel derart wehmütig – eine Erinnerung? – gebeten, doch welche zu pflanzen, dass Isabel, sobald sie wieder im Haus war, umgehend in der Gärtnerei angerufen hatte. Ganz egal, was ihre Tante zum Lächeln brachte, es wurde erledigt.
Isabel schob den Wagen gemächlich über den Bürgersteig, strich sich ein paar entflohene Haarsträhnen hinters Ohr und atmete den Rosenduft ein, der sich mit dem Geruch nach frisch gemähtem Gras und den salzigen Gerüchen der Bucht vermischte, die eine frische Brise zu ihr nach oben trug. Als sie um die Ecke bog, sah sie einen Mann mit Sonnenbrille auf der Verandaschaukel sitzen. Hatte sie etwa eine Anreise vergessen? Kat kümmerte sich an diesem Vormittag um die Pension, und es war eigentlich noch zu früh für neue Gäste, aber vielleicht –
Der Mann stand auf und ging die Stufen hinunter auf sie zu. O Gott. Es war Edward!
«Wow», sagte er anerkennend und nahm die dunkle Brille ab. «Gut siehst du aus! So entspannt, und Farbe hast du auch bekommen. Es ist schön, dich zu sehen, Iz.» Er musterte sie. Registrierte den Pferdeschwanz. Den Einkaufswagen. Die bestickte Bluse über der ausgeblichenen Jeans, die roten, flachen Mary Janes. Die Isabel von früher wäre niemals so herumgelaufen.
Edward. Eine Flut Erinnerungen durchströmte sie. Daran, wie sie als junges Mädchen manchmal stundenlang in sein Gesicht und in diese dunkelbraunen Augen versunken war, oft, ohne ein einziges Wort zu sagen. Wie oft hatten sie auf dieser Veranda gesessen und Händchen gehalten. Sie hatte sich geborgen und sicher gefühlt. Wie sehr sie sich in den letzten Wochen davor gefürchtet hatte, sich an dieses Mädchen zu erinnern, sie heraufzubeschwören! Heute jedoch empfand Isabel nur Mitgefühl für ihr früheres Ich.
«Was machst du denn hier?» Sie bemerkte, dass in ihrer Stimme keinerlei Ärger mitschwang.
«Wieso hast du mir das mit Lolly nicht erzählt? Ich hatte ja keine Ahnung, dass sie so krank ist.»
Isabel ging die Stufen hinauf und setzte sich auf die Schaukel.
Er stand gegen das Geländer gelehnt, den Kopf so dicht an einer Hängeampel mit lila Petunien, dass es aussah, als wüchse ihm eine Blüte aus dem Kopf. «Woher weißt du das?»
«Hier sprechen sich die Dinge schnell herum. Mein Bruder hat davon gehört und mich angerufen. Es tut mir leid, Izzy.»
«Du bist den ganzen weiten Weg hergekommen, um mir das zu sagen?» Isabel beugte sich vor und ordnete die Tourismusbroschüren auf dem kleinen Korbtisch. Es fiel ihr schwer, ihn anzusehen, diesen Mann, den sie so lange geliebt hatte, der ihr ganzes Leben verändert hatte. Und zwar mehr als nur einmal.
«Ja, natürlich! Lolly bedeutet mir sehr viel, das weißt du doch, Isabel.»
«Sie ist sehr schwach, Edward, und ich glaube nicht, dass sie Besuch möchte, aber ich sage ihr, dass du da gewesen bist.»
Er nickte, wandte sich um und sah hinunter zum Hafen. «Isabel. Ich habe mich wirklich in Carolyn verliebt. Ich möchte, dass du das weißt – du sollst wissen, dass es nicht nur irgendeine schäbige Affäre war.»
«Soll das etwa –» Aber was spielte es eigentlich noch für eine Rolle? Es gab nichts mehr zu streiten. Zwischen
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