Der Sommer der Frauen
für ihre traumatisierten Nichten, dass sie selbst fast jeden Moment eingeschlafen wäre. Wie sie einmal fast hundert Kilometer weit bis zu einem Vogelheiler gefahren war, als Kat im Garten eine verletzte Drossel gefunden hatte. Und sie war immer da gewesen, all die Jahre, ruhig, standfest, unerschütterlich, die Rechnungsbücher prüfend, sich um die Gäste kümmernd, Frühstückseier bratend.
Und nicht zuletzt, wie sie jetzt versuchte, etwas zu verändern, indem sie ihre Nichten zurück in die Pension holte. Und wie sie den Krebs bekämpfte. Kat hätte sich nicht gewundert, wenn Lolly gesagt hätte: «Ich werde mich ganz sicher nicht dieser furchtbaren Chemotherapie oder einer Bestrahlung aussetzen. Meine Zeit ist gekommen. Trete ich eben ab.» Das hätte ihrer Mutter ähnlicher gesehen. Ihr Entschluss zu kämpfen war untypisch für sie und gleichzeitig auch wieder nicht. So oder so war Lolly Kats Anker. Mochten sie einander auch nicht so nahestehen wie andere Mütter und Töchter, die miteinander Einkaufsbummel machten oder sich beim Karottenschälen ihre Geheimnisse anvertrauten, so waren sie doch in gewisser Weise Geschäftspartner. Sie wirkten beide in der Pension. Und jetzt …
Oliver setzte sich auf, zog Kat an sich und hielt sie fest. Er sagte nicht, alles wird gut. Er sagte auch nicht, hör auf zu weinen. Er sagte gar nichts. Kat hielt sich an ihm fest, umklammerte sein T-Shirt. Als die Tränen schließlich versiegten und sie wieder atmen konnte, sah sie sich um, sah die Wildblumen, die alte Bank mitten in der Wiese.
«Die muss irgendein Romantiker dahin gestellt haben, nur damit man sich mitten in diese herrliche, ungebändigte Pracht setzen kann», sagte sie und deutete auf die Bank. Sie holte tief Luft, stand auf und streckte Oliver die Hand entgegen. Er zog sich hoch, und sie führte ihn zu der Holzbank.
Oliver nickte. «Ja, stimmt. Das war ich.»
Kat musterte das Holz und fand, wonach sie suchte: Zwischen den vielen eingeritzten Initialen und Namen stand auf der zweiten Latte OT und KW auf der dritten. Natürlich nicht mit einem Herzchen darum, aber deutlich markiert. Diese Bank war draußen an der Froschwiese ihre Bank gewesen. Dort, weit weg von zu Hause, hatten sie sich getroffen, um zu reden und den Fröschen und Kröten beim Hüpfen zuzusehen. «Das kann doch nicht sein! Wie hast du die denn hierherbekommen?»
«Ich habe die Ausschreibung zur Gestaltung des neuen Parks gewonnen. Und weil sie ‹das alte Ding› sowieso rauswerfen wollten, habe ich gefragt, ob ich sie haben kann, aus sentimentalen Gründen und so. Ich kam vor ein paar Wochen zufällig hier vorbei, und als ich dann das mit deiner Mutter erfuhr, dachte ich, es wäre vielleicht ein schöner Ort für dich, um zwischendurch ab und zu Luft zu holen, weg von allem und trotzdem verwurzelt, falls du weißt, was ich meine.»
Ja, sie wusste, was er meinte. Ganz genau sogar. Sie liebte seine Sentimentalität. Sie fand es wunderbar, dass ein Landschaftsarchitekt, der öffentliche und private Gärten und Höfe und Spazierwege entwarf, eine Wiese voller Wildblumen zu schätzen wusste.
«Ach, Oliver!» Sie streckte die Hand nach ihm aus. «Du bist mehr als wunderbar.»
«Heißt das, du heiratest mich?», fragte er und zog eine kleine Schachtel aus der Tasche.
Das komische Gefühl fing bei ihren Zehen an, aber es wanderte nicht weiter nach oben, wie sonst immer. Hier stand Oliver in einer Wiese voller Wildblumen, vor ihrer geretteten Bank, mitten in einem Feld voller Möglichkeiten und fragte sie, ob sie ihn heiraten wollte. Alles, was Kat wollte, war, dass die Welt sich wieder richtig anfühlte, wieder sicher war.
Er öffnete die Schachtel und nahm einen antiken goldenen Ring mit einem glitzernden Diamanten heraus. Und dann steckte er ihr den Ring an den Finger.
«Ich liebe dich über alles. Und ich weiß, wie viel Angst du im Augenblick hast, was für Sorgen du dir um deine Mutter machst. Ich möchte dir eine Familie sein, Katherine Weller.»
Typisch Oliver: genau die richtigen Worte an genau dem richtigen Ort.
Kat zögerte, aber nur eine Sekunde lang. «Ja.»
Und dann, im Schutze alter Eichen und immergrüner Hecken, ließ Kat sich von Oliver auf ein Lager aus Wildblumen betten, ließ zu, dass er ihr das Sommerkleid auszog, und dann ließ sie sich zum allerersten Mal von ihm lieben.
*****
Sie fühlte sich kein bisschen anders als vorher. Nach all den Jahren, all den Jahren voller Phantasien über Sex mit Oliver Tate, voller
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