Der Sommer der Frauen
aufzumachen und die knarrenden Holzstufen hinunterzusteigen. Der Keller war vollgestellt mit alten Möbelstücken, die Lolly irgendwann mal restaurieren und verkaufen wollte, und mit der Einrichtung aus der Doppelhaushälfte, in der Isabel und June vor dem Unfall mit ihren Eltern gelebt hatten. Isabel hatte nur ihren alten, antiken Schminktisch mit dem hübschen ovalen Spiegel behalten. Sie hatte ihn abgeschliffen und frisch lackiert, und er hatte nichts mehr mit dem ramponierten Möbelstück von früher zu tun. An einer Wand voller Regale, in denen vom Farbverdünner bis zur Blumenerde alles Mögliche zu finden war, lehnten Kopf- und Fußteil des alten Bettgestells ihrer Eltern. Und unter den kleinen, schmalen Fenstern an der Wand gegenüber lagerten die alten Koffer ihrer Mutter.
Es waren sieben Stück. Sie standen in zwei Reihen übereinandergestapelt auf einem verblichenen Flickenteppich. Isabel packte den obersten Koffer, setzte sich im Schneidersitz auf den Teppich und schlug den dünnen Holzdeckel auf. Kleidung. Blusen und Pullover, ordentlich gefaltet. Vor Jahren hatte Lolly ihre Nichten gebeten, die Sachen durchzusehen und sich herauszunehmen, was sie behalten wollten, um den Rest in die Kleidersammlung zu geben, doch sie hatte es offensichtlich nie fertiggebracht, sich von irgendetwas zu trennen. Isabel ließ die Hände zwischen die Stapel gleiten und suchte tastend nach den Tagebüchern. Lolly hatte von zwei mit rotem Stoff bezogenen Notizbüchern gesprochen, beide mit dem Umriss eines Engels verziert. Wenn die Bücher in dem Koffer waren, wären sie zu fühlen, doch Isabel ertastete nur Stoff. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie ein bisschen erleichtert war.
Erfolglos durchsuchte sie die nächsten beiden Koffer. Lolly hatte gesagt, zum letzten Mal hätte sie die Tagebücher direkt nach dem Tod von Isabels Mutter in den Händen gehabt – vor fünfzehn Jahren. Vielleicht hatte sie die Tagebücher doch woanders verstaut. Oder sie lagen ganz unten, in dem allerletzten Koffer, den Isabel durchsehen würde. Wahrscheinlich, bei all dem Pech, das Isabel momentan hatte.
Im dritten Koffer stieß Isabel auf einen der Lieblingspullover ihrer Mutter, einen hellrosa Kaschmirpullover mit V-Ausschnitt. Ein paar Wochen vor dem Unfall hatte ihre Mutter genau diesen Pullover getragen, als sie Isabel anschrie, weil sie die letzten zwei Schulstunden geschwänzt hatte und mit zwei Jungs, mit denen sie gleichzeitig ging, beim Nacktbaden (von der Mutter einer Freundin ihrer kleinen Schwester) erwischt worden war. Isabel hatte zurückgeschrien. «Was ist denn schon dabei! Das kann dir doch egal sein!», und sie war zutiefst erschrocken, als ihre Mutter sie an der Schulter gepackt hatte, und zwar sehr fest. Doch dann hatte ihre Mutter sie an sich gezogen, fest in die Arme genommen, und es war ihr anscheinend egal gewesen, dass Isabel schlaff die Arme hängen ließ.
«Isabel. Mir ist nichts von dem egal, was du tust. Weil ich dich nämlich sehr lieb habe.»
Einen Moment lang ließ Isabel zu, dass ihre Mutter sie festhielt, und hoffte, dass sie nicht noch mehr sagte und Isabel dazu trieb, wieder wegzulaufen. Doch ihre Mutter war noch nicht fertig. «Ich wünschte, ich wüsste, wie ich zu dir durchdringen kann. Dich dazu bringen kann, dir selbst auch wichtig zu sein.» Isabel hatte sich gewunden und versucht, sich freizumachen, aber ihre Mutter hatte sie nicht losgelassen. «Ich liebe dich, Isabel. Ob du das willst oder nicht», hatte sie gesagt und sie dann plötzlich freigegeben.
Will ich doch
, hatte Isabel gedacht, war in ihr Zimmer gelaufen, hatte die Tür zugeknallt und sich damit noch mehr Ärger eingehandelt, weil sie June gestört hatte, die sich aufs Lernen konzentrieren musste.
Isabel zog den Pullover aus dem Koffer und hielt ihn sich an die Nase. Er duftete ganz schwach nach Coco de Chanel, dem Parfüm, das ihre Mutter immer benutzt hatte. Sie erinnerte sich noch gut an die Zeit damals mit vierzehn, als sie begonnen hatte, sich zu verändern. Sie war ungeheuer fasziniert gewesen von einem wilden Mädchentrio, denen völlig egal war, was andere über sie dachten. Damals hatte sie natürlich nicht kapiert, dass diese Mädchen auch sich selbst völlig egal waren, wie ihre Mutter es von ihnen und von Isabel immer behauptet hatte, dass es ihnen vollkommen an Selbstachtung mangelte. Während die Mädchen für ihre pubertären Mätzchen beliebt waren, war Isabel so gut wie unsichtbar. Eines Nachmittags hatte sie
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