Der Sommer der lachenden Kühe
Rytkönen noch an sein eigenes Aussehen erinnerte.
»Woher weiß ich, dass du nicht bluffst? In dieser Welt wird von allen Seiten versucht, einen alten Mann zu betrügen«, klagte Rytkönen.
Der Sohn holte ein altes Foto aus der Brieftasche, auf dem zwei Männer, ein älterer und ein jüngerer, vor einem deutschen Bierlokal standen. Der eine war Taa vetti Rytkönen, viel jünger als jetzt, und der andere Taavi Niemelä, auch er deutlich jünger. Der Sohn er zählte, die Aufnahme sei 1975 während einer gemein samen Urlaubsreise in Stuttgart gemacht worden, als er, der Sohn, seine Ausbildung zum Vermessungsingenieur abgeschlossen hatte und der Vater ihm ein wenig die Welt zeigen wollte. Rytkönen hielt das Foto in seinen zitternden Händen und starrte abwechselnd auf das Bild und auf Niemelä. Er musste nun glauben, dass er einen Sohn in Tampere hatte.
Der Sohn erzählte, die Deutschlandreise sei sehr inte ressant gewesen. Besonders beeindruckt habe ihn der Besuch der optischen Werke von Krefeld. Der Vater habe ihm seine alten Freunde vorgestellt, mit denen er in den fünfziger Jahren Geschäfte gemacht hatte. Taavetti Rytkönen hatte damals für das Finnische Landesver messungsamt feinmechanische Geräte eingekauft. Um den Handel möglichst vorteilhaft zu gestalten, hatte er ungeniert zum Mittel der Bestechung gegriffen. Zu die-sem Zweck hatte er in Finnland mehrere Räucherschin ken eingepackt, mit denen er den Abschluss der Ver handlungen in Deutschland etwas beschleunigt hatte. Die deutschen Industrievertreter, die von der Lebensmit telknappheit der Nachkriegszeit gezeichnet waren, hat-ten mit wässrigem Mund die Lieferverträge unterschrie ben. Finnland hatte daraufhin die erforderliche Menge an Theodoliten – optischen Winkelmessgeräten – und weiteren Präzisionsgeräten für die Landvermessung importieren können. Aus Finnland wiederum waren aufgrund der Devisenknappheit unter anderem mehrere Saunen an die deutschen Partner geliefert worden.
»In Krefeld konnte man sich gut an Vater erinnern. Sie feierten uns dort wie wichtige Geschäftsleute, zeigten uns die neuen Werkhallen und gaben glanzvolle Essen für uns.«
Vater und Sohn erinnerten sich, wie sie die deutschen Gastgeber beim Saunieren mehrmals übertrumpft hat-ten.
»Hier ist ein Bild von Mutter, und das hier ist meine Tochter. Sie ist im Mai drei Jahre alt geworden. Du bist ihr Großvater, ist das nicht schön?«
Taavetti Rytkönen starrte auf das Bild der Tochter, besonders jedoch auf das Bild der Mutter seines Sohnes. Dann hellte sich seine Miene auf:
»Ja, natürlich, Leena! Jetzt erinnere ich mich!« Rytkönens Augen wurden feucht. Er betrachtete lange
das Bild und lächelte. Angenehme Erinnerungen brach ten das Gesicht des alten Mannes zum Leuchten. Taavi Niemelä, Rytkönens unehelicher Sohn, entschul digte sich und sagte, er müsse die Toilette aufsuchen. Seppo Sorjonen spürte ebenfalls ein Bedürfnis und folgte dem jungen Mann. Am Pissoir konnte er sich nicht enthalten zu fragen, ob Taavetti Rytkönen tatsächlich Vermessungsrat sei. Der Titel erscheine ihm ungewöhn lich.
»Durchaus denkbar… Vater hätte ohne weiteres die Siegelgebühr für den Titel bezahlen können, er ist ein vermögender Mann. Er ist nämlich immer zur Stelle gewesen, wenn lukrative Grundstücke veräußert wur den. Die hat er gekauft und nach ein paar Jahren wie der gewinnbringend verkauft.«
Niemelä erzählte, wer in der Landvermessung arbeite, könne genau voraussagen, welche Grundstücke wann im Wert steigen würden. Mit denen könne man dann spekulieren, und sein Vater kenne sich in diesen Dingen
bestens aus. Wirklich illegal habe er aber wohl nie ge handelt, in Finnland dürften ja auch Beamte so viel Land kaufen und verkaufen, wie es ihr Vermögen zulas se.
Als die beiden in den Saal zurückkehrten, bemerkten sie, dass Rytkönens Stuhl leer war, der Alte war ver schwunden. Seppo Sorjonen machte sich Sorgen, wo Rytkönen jetzt wieder abgeblieben war. Den Sohn küm merte das wenig. Es sei eine Angewohnheit seines Va ters, hin und wieder einen Ausflug zu machen. Er kehre jedoch stets zurück, früher oder später.
Seppo Sorjonen fragte, ob Taavetti Rytkönen eventuell an Demenz, Altersschwachsinn, leide. Er entschuldigte sich für die indiskrete Frage, aber er wolle ein wenig mehr über ihn erfahren, da er sich nun mal darauf eingelassen habe, Rytkönens Reisegefährte zu werden, und da dieser selbst nichts von
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