Der Sommer der lachenden Kühe
sich wisse.
Der Sohn erzählte, sein Vater sei in den Abwehrkämp fen auf der Karelischen Landenge schwer verwundet worden. Ein Granatsplitter sei in seinen Kopf einge drungen. Er sei zwar im Lazarett operiert, seine Ge sundheit jedoch nie wieder richtig hergestellt worden. Hinsichtlich einer Demenz sei er sich nicht sicher. Das Gedächtnis des Vaters sei schon immer sehr schlecht, in früheren Jahren allerdings eher selektiv gewesen: Unan genehme Dinge pflegte er gern zu vergessen, aber wenn es darauf ankam, kehrte seine Erinnerung wieder zu rück. Jetzt, in den letzten Jahren, seien die Kontakte zwischen Vater und Sohn seltener geworden. Die Frage, ob der Vater an Demenz leide, habe er sich noch nie gestellt, vielleicht sei es der Fall. Man müsse seine Haushälterin danach fragen.
»Taavetti Rytkönen hat also keine Frau?« Niemelä berichtete, der Vater sei verheiratet gewesen,
doch bereits seit mehr als zehn Jahren verwitwet. Seit dem habe ihm immer irgendeine ältere Frau den Haus halt geführt. Niemelä schrieb Adresse und Telefonnum mer seines Vaters auf einen Zettel und gab ihn Sorjo nen.
»Rufen Sie am besten diese Nummer an, und bitten Sie die Haushälterin, Vater nach Hause zu holen«, riet er.
Seppo Sorjonen fragte, ob nicht der Sohn die Verant wortung für seinen Vater übernehmen könne. Wäre es zu viel verlangt, wenn Taavetti Rytkönen wenigstens vorläufig in Tampere bei der Familie seines Sohnes bleiben könne? Er selbst, ein entlassener Taxifahrer, sei letzten Endes ein Außenstehender in der ganzen Angele genheit.
»Machen Sie keine Witze! Wo sollte ich mit dem alten Mann hin? Ich habe genug mit meinen eigenen Angele genheiten zu tun, und wir haben auch gar kein freies Zimmer für Vater.«
»Aber er ist immerhin Ihr Vater«, versuchte es Sorjo nen noch einmal.
Taavi Niemelä schnaubte verächtlich. Vater, ja, ge wiss. Väter gebe es viele auf dieser Welt, für jeden Men schen einen, für manche sogar mehrere. Er habe jetzt schon viel zu lange hier verweilt, es sei Zeit für ihn, zu seiner eigenen Tischrunde zurückzukehren.
»Grüßen Sie Vater. Ich wünsche ihm alles Gute. Und Sie können erwähnen, dass ich auch noch Schwestern und Brüder habe, die alle denselben Vater haben, aber fast alle eine andere Mutter. So sieht die Vaterschaft aus, die er im Laufe seines Lebens begründet hat.«
Taavi Niemelä ging wieder zu seinem Tisch am ande ren Ende des Restaurants. Er befand sich dort anschei nend in Gesellschaft, zwei Frauen und ein Mann warte ten auf ihn. Man feierte offenbar sehr vergnügt, das konnte Sorjonen an den fröhlichen Mienen der Leute und an der ausgelassenen Art erkennen, in der sie sich zuprosteten. Der Sohn warf keinen Blick mehr zum Tisch seines Vaters.
Sorjonen machte sich auf, seinen alten Freund zu su chen. Er irrte durchs Erdgeschoss des Hotels, spähte in die Salons, inspizierte den kleineren Gastraum, die Empfangshalle, fragte beim Portier nach. Schließlich fand er Taavetti Rytkönen in der Küche, wo er sich mit dem Personal unterhielt. Rytkönen saß vor dem Kühl raum auf einem Tisch mit Blechplatte, in der Hand ein Kognakglas. Auf diesen Tischen rupften die Köche ge wöhnlich Wildvögel.
Rytkönen war dabei, den Köchen und Kellnerinnen eine Geschichte aus dem Krieg zu erzählen. Es ging anscheinend um das Jahr 1945 und den Lapplandkrieg. Rytkönen erklärte gerade, wie die Deutschen im Land kreis Rovaniemi versuchten, eine Rentierherde durch den Kemi-Fluss zu treiben, kurz nachdem sie die Stadt Rovaniemi niedergebrannt hatten. Die Rentiere weiger ten sich, in den Fluss zu gehen…
Sorjonen unterbrach die Geschichte an dieser span nenden Stelle und führte Rytkönen ins Restaurant zurück. Dort bezahlten sie die Rechnung. Rytkönen war mittlerweile sehr betrunken.
Rytkönen betrachtete sein schwankendes Bild im Spiegel des Fahrstuhls und sinnierte: »Bin ich ein Säu fer?«
Seppo Sorjonen betrachtete seinerseits das Spiegelbild des alten Mannes. Er fand, man könne nichts anderes sagen, als dass Rytkönen zumindest im Moment sturz betrunken sei. Außerdem habe ihm Rytkönen diese Frage schon einmal gestellt, nämlich im Aulanico, wo er zuletzt getrunken habe.
»Dann bin ich wohl ein Säufer.«
Sorjonen bejahte.
Im Zimmer berichtete Sorjonen, dass ihm der Sohn die Adresse und Telefonnummer Rytkönens gegeben habe. Es sei eine Geheimnummer, deshalb habe sie nicht im Telefonbuch gestanden. Jetzt sei
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