Der Sommer der lachenden Kühe
Kniefall vor Titelträgern zu machen. Wenn der Patient ein Herr Rat sei, so habe er sicher auch die finanziellen Mittel, einen Privatarzt zu konsul tieren, und müsse nicht die kostenlosen Serviceleistun gen des Staates beanspruchen. »Das können Sie ihm ausrichten.«
Sorjonen behielt Taavetti Rytkönen den ganzen Tag und die folgende Nacht unter strengster Beobachtung. Er bestellte heißen Johannisbeersaft und Fleischbrühe aufs Zimmer. Rytkönen aß lustlos, klagte über sein Befinden und schlief viel. In der Nacht hatte er Albträu me und redete mit sich selbst. Sorjonen wachte wohl weislich bei ihm, damit er nicht wieder aus dem Bett springen und in seinem Fieberwahn in den Gängen oder womöglich sogar draußen umherirren konnte.
In seinen Fieberfantasien kehrte Rytkönen in die Jah re seiner Kindheit zurück, rief nach seiner Mutter, arbei tete im Heu, schoss mit dem Katapult Elstern und ging schwimmen. Das Wasser war furchtbar kalt. Dann brach der Krieg aus. Taavetti ging zur Armee und fettete die Kettenräder von Panzern. Erst kam die Fettpresse abhanden, dann war sie verstopft. Rytkönen fluchte inbrünstig.
In den frühen Morgenstunden stieg das Fieber auf fast vierzig Grad. Der alte Mann hatte viel durchzuste hen. Er fantasierte, fing eine Geschichte von einem alten Dampfgenerator an, den er mit dem Panzer aus den Sümpfen hinter dem Mäkriänjärvi-See holen und nach Aunus schleppen sollte, wo er als Kraftmaschine für eine Feldkreissäge dienen sollte. Die Erinnerung zerfa serte, Sorjonen musste den Verlauf der Ereignisse durch klärende Zwischenfragen vorantreiben. Die Russen hatten die Dampfmaschine zurückgelassen und im Sumpf versenkt, ansonsten war sie aber völlig intakt. Rytkönen schimpfte über die Mücken und die Hitze im Panzerwagen, es war also Sommer. Der alte Panzerfah rer schmatzte mit den Lippen, als er im Gelände eine Stelle mit Blaubeeren fand, er musste an seine Mutter und an ihren selbst gemachten Beerensaft denken. Dann fing er an, über die Drahtseile zu fluchen, die dauernd rissen, während er den Generator durch die Einöde Ostkareliens zog. Zwischendurch war er auf einmal in den dreißiger Jahren in Hankasalmi mit dem Backen von Eierkuchen beschäftigt, fuhr aber mit dem Schleppen des Generators fort, als Sorjonen ihn rück sichtsvoll an dieses Unternehmen erinnerte. Die tonnen schwere Kraftmaschine gelangte schließlich glücklich nach Aunus. Rytkönen ahmte gekonnt das Geräusch der Kreissäge nach, nahm sogar das Gebiss aus dem Mund, damit das Geräusch noch echter wirkte. Dann schlief er zufrieden weiter. Seine Aufgabe war erfüllt, der Befehl ausgeführt, der alte Soldat in die Reserve entlas sen worden.
Am Morgen rief Seppo Sorjonen das Arztzentrum von Tampere an und bestellte einen Privatarzt zu Taavetti Rytkönen. Es erschien der Lizentiat der Medizin Remi Hyvärinen, ein unprätentiös wirkender Mann in den Vierzigern. Er bat den Patienten, sich im Bett aufzuset zen und den Oberkörper frei zu machen. Er horchte Rytkönens pfeifende Lungen ab und klopfte ihm mit den Knöcheln auf die Brust.
Seine Diagnose stand bald fest: »Eine leichte Bronchi tis. Das Herz scheint aber in Ordnung zu sein. Eine kleine Kur mit Antibiotika wäre vielleicht angebracht, außerdem zwei, drei Tage Bettruhe.«
Sorjonen bat den Arzt in sein eigenes Zimmer. Dort erzählte er ihm kurz, in welcher Beziehung er zu dem Patienten stand, und bat ihn, ihm ehrlich zu sagen, wie es um Rytkönen stünde.
Nach Meinung des Arztes war der alte Mann von kräftiger Konstitution, möglicherweise war er in seiner Jugend in einem Sportverein gewesen. Selbst nach der nur oberflächlichen Untersuchung ließ sich sagen, dass kein Grund zur Sorge bestand.
»Er wird auf dieser Welt noch viel zuwege bringen, wenn man ihn lässt.«
Seppo Sorjonen äußerte seine Vermutung, dass der Patient an Demenz, Altersschwachsinn, leide. Er sei Kriegsinvalide, sei am Kopf verwundet worden, habe womöglich noch heute Granatsplitter im Gehirn. Wie solle er, Sorjonen, sich dem Mann gegenüber verhalten, sollte er ihn in psychiatrische Behandlung geben?
Nach Auffassung des Arztes benötigte Rytkönen zumindest vorläufig noch keine stationäre Behandlung. Der alte Mann habe einen munteren Eindruck gemacht.
Hyvärinen erklärte, dass Menschen, die an Demenz litten, Probleme mit dem Gedächtnis hätten. Besonders alles Neue könnten sie sich nicht merken. Charakteris tisch sei, dass der
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