Der Sommer der Lady Jane (German Edition)
gesundheitliche Situation vor Augen hatte – und dass er sie akzeptierte. Glaubte man einigen Ärzten, so würde die Zeit kommen, dass ihm nicht mehr bewusst sein würde, überhaupt krank zu sein.
Jane konnte nicht sagen, was bedrückender wäre.
Die Kutsche schwankte hin und her, die Landschaft floss vorbei, und Jane wünschte, auch schlafen zu können. Reisen war anstrengend, dennoch hatte Jane noch nie in einer Kutsche schlafen können. Auch Lesen war nahezu unmöglich, denn in dem beengten Raum bekam sie Kopfschmerzen. Daher blieben Jane wie auch jetzt nur ihre Gedanken zur Gesellschaft.
Sie hasste es, London zu verlassen. Sie hasste es, ihre Freunde zurückzulassen, die neuen wie die alten; sie hasste es, die Feste zu versäumen, die so wunderbare Zerstreuung für ihren unruhigen und übersättigten Geist boten. Und sie hasste es, ihren Vater aus London fortzubringen, wo er die beste medizinische Versorgung gehabt hätte.
Obwohl Jason vermutlich recht hat, dachte sie mürrisch. Für Vater wäre es ein Graus, würden seine Bekannten ihn in seinem kranken Zustand sehen. Außerdem war Dr. Lawson ein fähiger Arzt. Wie viele Male während unzähliger Sommer war er zum Cottage gekommen, um Fieber und Schmerzen zu lindern? Und überdies stand ihnen jetzt Schwester Nancy zur Seite.
Trotzdem konnte Jane sich des Gefühls nicht erwehren, zu einer Gefangenen gemacht zu werden … oder zu einem Dienstmädchen auf Zeit, genauer gesagt. Das ist nicht fair, dachte sie und erlaubte sich einen kleinen Schmollmund.
Sie würde sich gegen die Ungerechtigkeit auflehnen, London jetzt verlassen zu müssen, da sie sich der allergrößten Beliebtheit in der Gesellschaft erfreute. Und das nur, weil ein verwirrter alter Mann und ein schwachköpfiger junger glaubten, sie dazu zwingen zu können. Doch als die Kutsche mit ihr und ihren zwei schnarchenden Reisebegleitern über vertraute Straßen rumpelte, geschah etwas Seltsames.
Es begann mit der knorrigen alten Eiche, die ein paar Meilen außerhalb von Stafford an der North Road stand. Das war die »Bestie«; so hatte Jane als Kind den Baum immer genannt. Der hohe Stamm erhob sich machtvoll aus der Erde, und seine schwarze Rinde wurde von blassgrünem Moos überzogen, das ihn mit dem Gras verschmelzen ließ, das um seine Wurzeln herum wuchs. Ihre Blätter saßen an den Zweigen wie Haarbüschel auf dem kahlen Schädel eines Mannes. Die Bestie war so groß und dick gewesen, dass Jane als kleines Mädchen Angst gehabt und geglaubt hatte, der Baum würde jeden verschlingen, der an ihm vorbeiging, und ihn dazu zwingen, im Innern weiterzuleben. Als Janes Mutter merkte, dass ihre Tochter jedes Mal erschauderte, wenn sie am Baum vorbeikamen, hatte sie ihr ins Ohr geflüstert, dass der Baum sie keinesfalls verschlingen wollte. Nein, denn in Wirklichkeit wäre der alte Baum das Haus des Feenkönigs – statt sich furchtsam zu ducken, wenn sie an ihm vorbeifuhren, sollte Jane lieber winken, denn dann würden die Feen die Äste des Baumes rütteln und schütteln und zurückwinken.
Also hatte Jane zögerlich gewinkt, als sie das nächste Mal daran vorbeigekommen waren. Eine gleichermaßen zögerliche Brise war durch die Äste der Bestie gestrichen und hatte sie leicht bewegt. Jane hatte vor Vergnügen gekreischt, hatte noch einmal begeistert gewinkt, und da just in diesem Moment ein stärkerer Wind aufgekommen war, hatte der Baum begeistert zurückgewunken.
Selbst als sie schon längst dem Alter entwachsen war, in dem man an Feenkönige glaubte, hatte Jane der Eiche jedes Jahr wieder gewinkt und ein kindliches Vergnügen an deren schrumpeligem Gesicht gehabt, wenn sie den Gruß erwiderte – oder auch nicht, je nachdem, ob gerade der Wind wehte oder nicht.
Als die Kutsche jetzt an dem Baum vorbeirumpelte, hob Jane die Hand und winkte ihm kaum merklich. Es überraschte sie, dass es ihr noch immer Herzklopfen machte, als sie sah, wie die Äste des alten Baumes sich im Wind bewegten und sie auf ihrer Reise grüßten.
Je weiter sie nach Norden gelangten, desto kühler wurde es, sogar jetzt im Sommer. Jane war gegen die Kälte gewappnet, Schwester Nancy jedoch nicht, weshalb Jane ihr ein sehr teures champagnerfarbenes Tuch lieh. Sie hatte das Tuch schon wieder vergessen, bis der Duke eine Bemerkung darüber machte. »Es hat genau die Farbe des Wassers, wenn über dem Merrymere die Sonne aufgeht.«
Er hatte recht, und Jane bemerkte, dass die Farben nun auch in ihre Erinnerung
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