Der Sommer der Lady Jane (German Edition)
die Hauptstraße hinunter. Schon bald hatte die Dunkelheit ihn verschluckt.
Er war auf der Jagd nach seiner Beute.
Er hatte nicht mehr zurückgeschaut.
13
Eingedenk der Geschehnisse war es nicht verwunderlich, dass Jane vergaß, Victoria zu berichten, wie geschickt ihre Brüder im Apfelwerfen waren. Am Morgen nach dem Fest wachten Michael und Joshua Wilton daher angenehm unbestraft und bereit für ihr nächstes Abenteuer auf.
»Wie spät ist es?«, murmelte Joshua, als Michael ihn anstieß.
»Noch nicht Morgengrauen«, wisperte Michael. »Beeil dich und zieh dich an, bevor Bridget und Minnie aufstehen und uns in die Quere kommen.« Er warf seinem jüngeren Bruder die Hose zu, während er die eigene anzog. Weder Schuhe noch Strümpfe – das gesamte Haus würde sie sonst hören; lieber also barfuß unterwegs sein.
Joshua gähnte herzhaft mehrere Male, während er sich anzog. »Aber was haben wir denn vor, Michael?«
»Wir werden auf den Hohlkopf klettern«, erwiderte der grinsend.
Joshua riss die Augen auf. »Auf den Hohlkopf?«, quiekte er.
Der Hohlkopf war ein Baumstamm, der vor Jahrzehnten von den Fischern des Dorfes in den Grund des Merrymere gerammt worden war, genau in dessen Mitte. Die Theorie lautete, dass ein versenktes Objekt für Forellen von Interesse sein könnte, weil es einen Rückzugsort bot, an dem sie sich sammeln und verstecken konnten. Somit wäre es die perfekte Stelle, um einen guten Fang zu machen. Im Laufe der Jahre hatten die Fischer allerlei weitere Objekte versenkt. Ein Bettgestell, einen Karren mit gebrochenen Achsen … immer in der Hoffnung, mehr Fische anzulocken. Und jeder Angler, der auf sich hielt, würde berichten, wie gut es klappte … obwohl es schwerfallen würde festzustellen, wann das letzte Mal tatsächlich ein Fisch gefangen worden war.
Der Hohlkopf war knapp zehn Meter lang, wobei sich der Stamm fast ganz unter Wasser befand und etwa nur einen Meter weit in einem sehr spitzen Winkel aus dem See ragte. Nichts galt als so tollkühn, wie auf dem Hohlkopf zu stehen, und keiner der Freunde der Wilton-Jungen hatte das bisher gewagt. Alle waren sie zu ängstlich gewesen – es sei zu weit draußen, sagten sie, das Wasser sei dort viel zu tief.
Es stimmte – es war ziemlich gruselig. Ihnen allen jagte es einen Angstschauder über den Rücken, jedes Mal wieder, wenn sie dort vorbeiruderten.
Aber Michael hatte keine Angst. Nein, Joshua und er würden die Ersten sein, die oben stehen und ihre Angst besiegt haben würden.
Aber Joshua sah nicht besonders überzeugt aus.
»Glaubst du wirklich, dass das eine gute Idee ist?«, jammerte er, kaum dass sie sich zur Küchentür hinaus in den Garten geschlichen hatten.
»Das wird ganz toll«, erwiderte Michael. »Wir müssen uns doch nur Mr Morgans Jolle ausleihen, den Fluss runterrudern und dann raus auf den See.«
»Aber bestimmt merkt er, dass sein Boot verschwunden ist.«
»Gestern Nacht waren alle auf dem Fest. Sie schlafen also noch«, argumentierte Michael ohne Zweifel an seiner Logik. Hätte er bis nachts um drei getanzt und gegessen, würde er bis mindestens neun Uhr schlafen. Ganz wie seine Eltern und Schwestern.
»Aber was, wenn nicht?«, hakte Joshua nach.
»Er schläft ganz bestimmt noch.«
»Aber was, wenn …«
»Sei doch nicht so ein Muttersöhnchen, Joshua!«, rief Michael.
»Aber … es ist der Hohlkopf!« Joshua blieb stehen.
»Du willst also nicht mit? In Ordnung«, sagte Michael und verschränkte die Arme. »Dann bleibst du eben so ein Muttersöhnchen wie alle anderen auch. Aber ich habe keine Angst. Ich werde auf dem Hohlkopf stehen. Du kannst ja zugucken.«
Er ging zum Flussufer hinunter und schlug den Weg in Richtung Morgans Farm ein, wo Mr Morgan seine Jolle festgemacht hatte. Es dauerte nicht lange, bis er die Schritte seines Bruders hinter sich näher kommen hörte.
»Ich habe auch keine Angst«, sagte Joshua. Bereit für das nächste Abenteuer trottete er neben seinem Bruder zur Farm.
Byrne hatte weder lange noch gut geschlafen. Was er allerdings auch nicht erwartet hatte. In der vergangenen Nacht hatte er sein Bein zu sehr angestrengt. Hatte er sich zunächst in jenem Gebüsch versteckt, war er danach den beiden verdächtigen Männern gefolgt, von denen er jedoch keine Spur mehr hatte entdecken können. Nach einer halben Stunde hatte er die Suche nach ihnen aufgegeben.
Nichts konnte so frustrierend sein wie die Erkenntnis, dass die Jagd vergeblich gewesen war. Daher hatte Byrne darauf
Weitere Kostenlose Bücher