Der Sommer der Lady Jane (German Edition)
werde jetzt auch nicht gehen!«, jaulte Charles. »Es ist schon spät, und wir sind gerade erst angekommen … oh, der Tee ist da.« Er deutete auf die beiden Hausmädchen, die Tabletts mit kaltem Fleisch und Pasteten neben den Kannen mit heißem Tee abstellten.
»Nun, ich werde nicht zulassen, dass der Mann deshalb die Flucht ergreift«, knurrte Sir Wilton. Jane wollte gerade den Mund aufmachen, aber ausnahmsweise war es Jason, der sich als Stimme der Vernunft zu Wort meldete.
»Kommen Sie schon, Sir. Der Mann hat noch nie die Flucht ergriffen. Warum sollte er das jetzt tun?« Auf die Vernunft in seiner Stimme folgte ein Schulterklopfen. »Es ist schrecklich spät, und meine Gäste sind gerade erst angekommen. Bestimmt wollen sie sich erst einmal frisch machen. Zusammen mit Ihren Männern würden Sie ein Gläschen Wein bestimmt nicht verschmähen …«
»Während Sie einen Bericht verfassen«, fügte Jane rasch hinzu, »schließlich muss der Überfall doch offiziell dokumentiert werden, nicht wahr?«
Und so wurde jeglicher Gedanke, sich in die warme Sommernacht hinauszuschleichen, verdrängt, als Sir Wilton, Mr Cutler, die beiden Farmer, Big Jim, die Verwalter, Charles und Nevill sich alle zu einem Abendimbiss zusammensetzten.
Jason musterte seine Schwester nachdenklich, während die Gäste im Salon Platz nahmen.
»Was ist?«, fragte sie, als sie seinen Blick auffing.
»Nichts«, erwiderte er. »Ich hatte nur keine Ahnung, dass du dich für Recht und Gesetz interessierst.«
»Ich bin daran interessiert, dass die Sache fair ausgetragen wird. Selbst du musst zugeben, dass die Bewohner von Reston geradezu versessen darauf sind, den Räuber zu fangen.«
»Verständlich, bedenkt man den Schaden, den er angerichtet hat.«
»Umso stärker wiegen die Gründe, die Sache sorgfältig aufzuklären«, konterte Jane in ihrem süßlichsten Tonfall. »Ich jedenfalls würde nicht losmarschieren und ohne stichhaltige Beweise irgendwelche Männer verhaften.« Sie musterte ihren Bruder. »Dr. Berridge würde mir sicherlich zustimmen.«
Es war wirklich unfair, dass sie den Doktor erwähnte. Schließlich nahm ihr Bruder an, sie würde sich Dr. Berridge innerlich verbunden fühlen – denn sollte Jason auch nur den leisesten Verdacht hegen, dass ihr wahres Interesse Byrne Worth galt …
Dann würde sie ihr Geheimnis aufgeben müssen. Dieses zerbrechliche Etwas, das ihr half, Tag um Tag zu überstehen. Selbst im Lichte ihrer Feigheit und ihrer merkwürdig wechselhaften und sich vertiefenden Gefühle durfte sie es Jason nicht wissen lassen. Nicht jetzt. Noch nicht.
»Vielleicht sollte ich ihn benachrichtigen«, fuhr Jane fort, »immerhin könnte es sich lohnen, schon morgen seinen ärztlichen Befund vorliegen zu haben, besonders was den Zustand von Mr Worths Verletzung betrifft.«
Jason zuckte lediglich die Schultern. »Ja, das ist wohl eine gute Idee.« Mit dieser Bemerkung wandte er sich ab und ging auf den Salon zu.
»Jason!«, rief sie und zwang ihn, sich umzudrehen, bevor er die Tür erreicht hatte. »Mir war nicht bewusst, dass auch du Wert darauf legst, dass nach Recht und Gesetz verfahren wird.«
Jason dachte kurz nach. »Es mag sein, dass ich den Mann persönlich nicht schätze. Aber ich habe auch gesehen, was Mr Worth für Joshua Wilton getan hat. Ich kann mir denken, dass Sir Wilton von Ambleside und den anderen größeren Ortschaften unter Druck gesetzt wird, sich um dieses ›Problem‹ zu kümmern. Das nehme ich jedenfalls an. Er wird einlenken.«
Jane betrachtete ihren Bruder – ihren unbekümmerten, nichtsnutzigen Bruder – mit fast so etwas wie Bewunderung.
»Was ist?«, fragte er und wirkte jetzt fast ein wenig verlegen.
»Nichts«, erwiderte sie lächelnd, obwohl ihr noch eine Frage blieb. »Würdest du den Mann verteidigen … obwohl es deine Freunde sind, die ausgeraubt wurden?«
Jason lächelte – sein unbekümmertes, sorgloses Lächeln. »Das soll wohl ein Scherz sein. Charles und Nevill werden bestimmt vier Wochen lang über nichts anderes mehr reden als über diese Geschichte. Jede Wette, dass ihnen nichts Besseres passieren konnte als diese Reise.«
15
Am nächsten Morgen ging Lady Jane zusammen mit einer Gruppe von Gentlemen auf Byrne Worths Haus am Ufer des Merrymere zu.
Unnötig zu sagen, dass Byrne überrascht war.
Er zählte nicht weniger als zehn Männer. Er erkannte den Marquis of Vessey, Sir Wilton, Dr. Berridge, Mr Cutler als Rechtsbeistand des Dorfes und ein paar weitere
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