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Der Sommer der Schmetterlinge

Der Sommer der Schmetterlinge

Titel: Der Sommer der Schmetterlinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adriana Lisboa
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hatte vor nichts mehr Angst, und er lebte seine erste Leidenschaft mit der entschiedenen und trügerischen Wahrnehmung eines Zwanzigjährigen. Er war sein eigener König, und sein Reich erstreckte sich in alle Richtungen. Aus Liebe verbrachte er ganze Nächte damit, das Mädchen in Weiß, das jetzt drei Dimensionen, eine Stimme, einen Geruch und einen Geschmack hatte, auf dem Papier zu rekonstruieren. Aus Liebe folgte er spontanen Eingebungen, wie etwa der, auf Berge zu steigen und von oben die Endlichkeit der Welt zu betrachten, die an die Unendlichkeit einer einfachen Berührung nicht heranreichte, nicht heranreichen konnte: seine Fingerspitzen, ihre feste Haut. Aus Liebe begeisterte er sich plötzlich für die Schönheit, die sich überall fand, in den verdreckten Bussen, im Abfall, der aus einem Behälter quoll, in der Gruppe junger Leute, die am Strand Fußball spielten, und, klassischer, im Sonnenuntergang, in einer Blütenknospe, in den Meereswellen, im Horizont, der die Illusion von Ausgeglichenheit erzeugte, und im Rausch, der ihr Gegenteil darstellte, im Verzicht, in der Hingabe. Aus Liebe begehrte er Maria Inês fast schon verzweifelt, ob er sich nun fern von ihr oder in der Geborgenheit ihrer Umarmung befand, denn nicht einmal ihre echte körperliche Präsenz wurde der monumentalen Idee gerecht, die Tomás sich von ihr machte. Aus Liebe musste er pausenlos fieberhaft nach Worten suchen und sich pausenlos über deren begrenzte Kraft ärgern. Ich liebe dich, schrieb er, und es kam ihm prosaisch und unvollständigvor. Denn Tomás wusste mit Sicherheit, dass kein Mensch so liebte wie er. All die anderen Verliebten hielten sich bloß für verliebt. Und was Maria Inês’ Abweisung bei ihrem ersten Zusammensein anging – Tomás, bitte verliebe dich nicht in mich –, so war er überzeugt, dass es leere Worte gewesen waren, Worte ohne Substanz. Er sann darüber nach, warum Maria Inês sie gesagt haben konnte: aus Unsicherheit oder übersteigerter Selbstsicherheit, aus Unerfahrenheit, aus Angst? Oder weil ihre Beziehung noch nicht gereift war? Doch es hatte keinen Zweck, sich den Kopf zu zerbrechen. Schließlich musste es möglich sein.
    Ständig dachte Tomás an ihren Körper, die weißen Brüste, die kleine Narbe auf ihrem rechten Oberschenkel, die an irgendein kindliches Missgeschick erinnerte, die kleinen Locken in ihrem Nacken und die anderen Kurven, die sich wiederholten und erneuerten. Sein Blick kletterte an ihren Beinen hinauf, nichts gebot ihm Einhalt, nicht der Saum eines Minirocks, nicht der Stoff eines Badeanzugs. Er durfte fortfahren, freizügig, war berechtigt. Tomás trat in Maria Inês’ Welt ein, in Maria Inês’ Körper (Meer, Salzluft, Sirene), und aus Minuten wurden Stunden wurden Tage wurden Jahre.
    In Wahrheit jedoch sollte er Maria Inês nie besitzen.
    Sie war schon vor sieben auf den Beinen, was nicht weiter erstaunte, da ihr Bedürfnis nach Schlaf sich im umgekehrten Verhältnis zum Voranschreiten der Jahre verringerte. Überraschend war dagegen, dass auch ihre Tochter bereits wach war, und mehr als das: geduscht und vollständigangekleidet. Sie trug ein leichtes Baumwollkleid auf dem leichten Körper, Ledersandalen anstelle der ewigen nackten Füße, und aufmerksamen Blicken entging nicht ihr silbernes Ringlein am Zeh. Sie roch nach Kinderparfüm.
    Das weiße Apartment fiel in den Winterschlaf. Es gab keine Hausangestellten, die es auf der Suche nach einem schmutzigen Glas oder einem Spinnennetz durchkämmt hätten, die Bettüberwürfe ausbreiteten, Platzdeckchen auf dem Esstisch verteilten und Popcornreste vor dem Fernseher aufsammelten. In der Küche dampfte die elektrische Kaffeemaschine leise vor sich hin.
    João Miguel schlief zu diesem Zeitpunkt vermutlich in seinem Sitz in zehntausend Metern Höhe.
    Eduarda hatte einen peruanischen Reiserucksack mit winzigen gestickten Figuren darauf, kleinen Männern und Frauen mit Hüten und Tieren, die wohl Lamas sein sollten. Ein Andenken an ihre Machu-Picchu-Reise. Maria Inês hatte eine Reisetasche, auf der die fremden Initialen des Schlüsseletuis viele Male wiederkehrten. Insgesamt zeichnete sich ihr Gepäck durch einen gesunden Minimalismus aus. Besser war es, auf etwas zu verzichten, etwas wegzunehmen, wie es ein Bildhauer an seinem Steinblock tat. Besser war es, weniger zu sein, die kleinstmögliche Menge zu verkörpern und die Stille zu verteidigen, die Nacktheit, die Freiheit. Besser war es, leere Hände zu haben. Andernfalls

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