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Der Sommer der Schmetterlinge

Der Sommer der Schmetterlinge

Titel: Der Sommer der Schmetterlinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adriana Lisboa
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Steinbruchs, noch nicht ganz ausgelöscht. Die von der Zeit geschwärzten Dachziegel wirkten wie der Panzer eines toten Tieres, und im Inneren, unter den Dachziegeln, heulten Gespenster. Maria Inês glaubte an Gespenster. Irgendein Gedanke schien dort, zwischen den zerfurchten Mauern, zu wachsen. Gemeinsam mit der Erinnerung an ein Verbrechen, dem ein anderes Verbrechen gefolgt war, gemeinsam mit dem Schmerz. Maria Inês glaubte an den Schmerz.
    Und während sie stöhnende Laute von sich gab, die sich mit heiseren Worten von Tomás mischten, während ihr Körper mit seinem Körper sprach, blutete eine heimlichere und verborgenere Maria Inês immer weiter.

FLORIAN
    Die glücklichen Tage, die Maria Inês und Tomás miteinander verbrachten, dauerten einige Zeit an, doch die Vorboten des Unglücks waren allgegenwärtig wie die weißen Stellen zwischen den Wörtern eines Textes. Wie ein Tiger, der an den gefährlichen Rändern des Traums lauert. Sie verpasste viele Klavier- und Französischstunden, um sich mit Tomás in seiner Wohnung zu treffen oder mit ihm Hand in Hand durch die Stadt zu laufen. Der Asphalt unter den Füßen bot ihr Halt, anders als die Welt der unbefestigten Wege, die sie kannte.
    Tomás hielt sich nicht völlig verborgen, häufig erschien er bei Großtante Berenice zu wohlerzogenen Sonntagnachmittagsbesuchen. Hinterher, wenn sie allein waren, sagte er zu Maria Inês: Manchmal denke ich, deine Großtante weiß, was zwischen uns los ist, sie ahnt alles und stellt sich nur dumm, und dann denke ich wieder, dass sie tatsächlich sehr naiv ist.
    Aber Maria Inês schüttelte den Kopf, um zum Ausdruck zu bringen, dass weder das eine noch das andere zutraf.
    Sie und Großtante Berenice redeten nicht viel miteinander. Maria Inês neigte nicht zu Vertraulichkeiten, sie fragte nicht gern um Rat. Und sie schätzte es, einen Geliebten zu haben, mit dem sie schlief, ohne dass es jemandwusste – entgegen allen moralischen Normen, die ihr ihre Erziehung auferlegte, entgegen allen moralischen Normen, denen sich junge Mädchen in Rio de Janeiro damals beugen mussten. Sie fühlte sich fast gerächt. Fast. Der Moment, da sie sich endgültig würde rächen können, war noch nicht gekommen, doch der Keim dieser Notwendigkeit reifte bereits in ihr wie ein zarter kleiner Orkan.
    Mal Tomás. Mal João Miguel. Die Beziehung zu ihrem Cousin zweiten Grades war anderer Natur, ging aber vielleicht tiefer, was keinen Widerspruch darstellte. Blumen und Pralinen. Nichts mit heimlichen Treffen. Der hünenhafte Körper João Miguels machte den Eindruck, als hätte er zu viel davon, als wäre er ihm zu weit, wie ein Hemd, das eine Nummer zu groß ist. Seine Seele fand sich darin nicht zurecht. Stark-schwach, schwach-stark. Deshalb durfte er niemals wissen .
    Genau wie Clarice Jahre zuvor in derselben Stadt und in ebendiesem Zimmer ihren eigenen Weg eingeschlagen hatte, wollte nun auch Maria Inês ihr höchstpersönliches Projekt verwirklichen und ein solides Leben auf einer sichtbaren und benennbaren Grundlage aufbauen. Sie musste vorsichtig handeln, Schritt für Schritt, musste die richtige Distanz zu sich selbst wahren.
    Die erste ihrer Entscheidungen bestand darin, sich an der Medizinischen Fakultät einzuschreiben, obwohl sie wusste, dass sie nie mehr sein würde als eine mittelmäßige Ärztin, denn sie interessierte sich nicht für Medizin. Aber sie brauchte den Rückhalt eines solchen Berufs, meinte,es werde sie stärken, wenn sie ihre Person mit bestimmten Qualifikationen und Positionen versehe. Und es war letztlich sicherer, als sich mit der Frage zu beschäftigen, wer Maria Inês eigentlich war.
    Sie musste organisieren, aufbauen. Glauben. Zu viele Dinge hatte sie schon gesehen und erlebt.
    Tomás wurde für sie zu einer Art Oase. In gewisser Weise wusste Maria Inês, dass er nicht für immer war, wodurch alles, was er ihr in dem Moment bedeutete, an Wert gewann. Tomás machte sie zu einer erwachsenen Frau. Mit ihm nahm das Unerreichbare Gestalt an (selbst wenn das Unerreichbare unerreichbar blieb). Tomás war gut und unkompliziert. Wenn ihr zufällig einfiele, ihm einen Käfer oder eine Kröte zu zeigen, würde er sich gewiss köstlich amüsieren.
    Kurz vor Ostern bekam Maria Inês eine Erkältung, die ihr den Grund lieferte, nicht auf die Fazenda fahren zu müssen. Die Erkältung ging rasch vorüber, und am Freitagabend erschien João Miguel zu seinem üblichen Besuch, diesmal mit einem Strauß Wiesenblumen. Großtante

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