Der Sommer der Schmetterlinge
verlor die ganze Unternehmung ihren Sinn.
Sie fuhren am Strand entlang, es war die längere, aber auch die schönere Strecke.
Auf der Promenade wimmelte es von Fußgängern, die kein bestimmtes Ziel hatten und trotzdem sehr eilig in die eine oder die andere Richtung strebten. Fahrräder und Skater zischten auf der Radspur dahin. Nannys in weißen Uniformen gingen mit den rosafarbenen Sprösslingen ihrer Arbeitgeberinnen spazieren, die den Tag in Hosenanzügen, mit modischen Brillen und dezentem Schmuck im Büro zubrachten. Die Touristen erkannte man schon von weitem, denn sie waren größer als die Einheimischen und hatten gerötete Gesichter, manchmal auch merkwürdig hellblonde Augenbrauen. Im Schatten eines Kiosks tranken übernächtigte Prostituierte, nicht zu übersehen in ihren kurzen, engen Kleidern und auf ihren hohen Absätzen, mit dem letzten Kunden ein Bier.
Als sie an einer roten Ampel hielten, näherte sich ein Mädchen und bat um Geld. Es klopfte mit der geöffneten Hand gegen die geschlossene Scheibe, und Maria Inês machte eine verneinende Geste. Mit leerem Blick blieb das Mädchen stehen, und Maria Inês betrachtete die am Straßenrand lagernde Gruppe: eine Frau, zwei Kinder und ein Baby, das mit einer Papiertüte spielte. Allesamt waren sie einheitlich grau von Schmutz und Armut. Die Mutter sah jung aus. Dann konzentrierte sich Maria Inês auf das Baby – fünf, sechs Monate alt. Vielleicht weniger. Es lag auf einem Stück Zeitung und drehte sich hin und her. Es hatte keine Beine und trug Windeln, die schlecht saßen, weil die Windeln nicht für Babys ohne Beine gemacht waren.
Ist das dein Bruder?
Ja.
Er hat keine Beine?
Nein, und an einer Hand hat er nur drei Finger. Eines Tages ist meine Mutter pinkeln gegangen, erklärte das Mädchen, und da ist mein Bruder zur Welt gekommen, er wurde zu früh geboren. Deshalb hat er diese Schäden.
Fahrräder sausten auf dem Radweg vorbei. Die Ampel gab die Straße frei, und im Rückspiegel sah Maria Inês einen schwarzen Grand Cherokee geschickt Zickzacklinien fahren, um eine unvorsichtige Taube zu erwischen, die auf dem Asphalt gelandet war. Er erwischte sie nicht.
Haben Sie etwas Geld für mich?, fragte das Mädchen. Rote Spangen hielten ihre struppigen Haare zusammen. Danach sagte sie: Bitte, kaufen Sie einen Kaugummi.
Die Taube, die dem Angriff des Grand Cherokee entronnen war, landete auf der Brüstung eines Fensters, aus dem eine Putzfrau sich zu zwei Dritteln herauslehnte, um die Scheibe zu polieren. Und dann begannen die Autos zu hupen, weil alle zu spät zur Arbeit kamen oder auch nur, weil sie einfach hysterisch waren. Niemand achtete mehr auf das Baby, dessen Existenz bloß eine weitere statistische Größe war, etwas, das man mit halbem Auge registriert und dabei flüstert: Wie schrecklich.
Später erreichten Maria Inês und Eduarda die Brücke über die Guanabara-Bucht, wo der Verkehr sich vor den Mauthäuschen staute. Eduarda hatte sich hinter ihrem Schweigen verschanzt. Sie saß zusammengerollt auf dem Sitz und kehrte Maria Inês den Rücken zu.
In dem Maße, wie das Auto vorankam und die erste Stunde der Reise verstrich, zogen draußen immer mehr Weideflächen mit nicht besonders aufregenden Rindern vorbei. Ab und zu sah man neben der Piste einen wackligen Verkaufsstand, wo Kuchen, Zuckerrohrsaft, Knackwurst mit Brot und Trockenbananen feilgeboten wurden. Kaum näherten sie sich einem Städtchen, begann das Auto über Temposchwellen zu holpern, die sich ständig vermehrten, denn die Städte wuchsen, und sie wuchsen auf Kosten der Fernstraße. Schwerfällige Lastwagen fuhren mit Bananenkisten, Zementsäcken oder Käfigen voller lebender Hühner vor ihnen her.
Eduarda schien zu schlafen, ihr Körper schaukelte im Rhythmus des Wagens. Maria Inês legte Musik ein, nicht mehr von Monteverdi oder Brahms, sondern den Soundtrack von Good Will Hunting , der ihrer Tochter gehörte und bei dem sie sich ein bisschen jünger fühlte. João Miguel saß im Flugzeug und träumte. Maria Inês wusste, was er träumte, und konnte ihm fast dabei zusehen. Es hatte mit Venedig zu tun.
Gleichzeitig – in diesem Moment war Maria Inês in der Lage, die Gegensätze zu verbinden – dachte sie auch an Clarice (die sich mit einem Olfa-Messer die Pulsadern aufgeschnitten hatte) und an Tomás (der ein bestimmtes Bild von Whistler liebte). Sie kannte die beiden genauso wenig wie einen Teil ihrer selbst, den sie aus den Augen verloren hatte. Doch diese
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