Der Sommer der Schmetterlinge
Behauptung stimmte nur zur Hälfte. Im Grunde ließ sich das Ganze rasch auf ein Drama (im theatralischen Sinn des Wortes) reduzieren,in dem verschiedene Frauen auftraten, die alle Maria Inês hießen und sich mehr oder weniger ähnelten.
Sie setzte ein Mosaik zusammen. Für Venedig war ein besonderer Platz vorgesehen. Für einen jungen Mann namens Paolo. Für einen Tennislehrer und die Exfrau (Luciana) eines Cousins, der beim Film arbeitete. Für João Miguel. Für den vecchio Azzopardi. Für Flaschen mit Chianti, für einen Bariton namens Bernardo Águas, für Madrigale von Monteverdi (und für den Soundtrack von Good Will Hunting ), für eine Tochter, für zwei Narben von einem Olfa-Messer und eine Kaiserschnittnarbe. Sie musste für alles einen Platz finden. Und eine passende Stelle für diesen Schrei.
Für diesen verdammten, prachtvollen, bunten Schmetterling.
Die Minuten, Stunden, Tage und Jahre, die Tomás mit Maria Inês verbrachte, rochen nach Vanille oder nach Jasmin oder nach Lilien, nach etwas Weißem und Schönem. Zu der Zeit wusste er noch nicht. Er war eine Art Adam vor dem Apfel, vor der schlimmsten Sünde – vor der Wahrheit. Einer Wahrheit, die ihm nicht gehörte, einer fremden Wahrheit, die aber trotzdem weh tat.
Vor einer ganzen Reihe von Wahrheiten. Aus jenem Material, das die Mauern der Ipê-Fazenda überzog, von der Maria Inês ihm bei einem ihrer ersten Treffen erzählt hatte. Sie schien regelrecht besessen von dem Thema: die ehebrecherische Frau, der eifersüchtige Ehemann, das Messer, vor allem der Lynchmord. Bei meinen Eltern istes natürlich verboten, darüber zu reden. Aber ich weiß Bescheid, denn bis heute spricht man überall davon. Kannst du dir das vorstellen? Ein Typ, der aus Eifersucht seine eigene Frau ersticht. Hat er sie denn überhaupt geliebt? Oder war er verrückt? Verrückt vor Liebe?
Tomás suchte ihre Hände und fand diese Geschichte über die Ipê-Fazenda ziemlich unpassend. Doch einige Monate später kehrte sie wieder, die Geschichte, als er gerade mit Chinatinte ein Muster auf Maria Inês’ nackte Pobacke zeichnete. Da galt für sie schon ein fortgeschritteneres Attribut: Freundin? Geliebte?
Ich stelle mir immer noch vor, wie dieser Mensch gelyncht wurde, sagte sie. Jeden einzelnen Moment. Ob er schon tot war, als sie ihn angezündet haben? Oder nur so gut wie? Der schlimmste Tod muss der durch Verbrennen sein. Schlimmer als Ertrinken oder Erschossenwerden oder ein Autounfall. Schlimmer als Hunger oder Kälte oder.
Vergiss es einfach, Maria Inês.
Es geht nicht. Ich kann es nicht vergessen.
Sie zog ein Kissen zu sich heran. Sie lagen im Bett von Tomás’ Eltern, das auf diese Weise wieder einen Sinn bekam.
Es gibt einen großen Steinbruch auf der Fazenda, fuhr sie fort. Auf dem Berg hinter dem Haus meiner Eltern. Mein Vater hat uns verboten, dorthin zu gehen, weil man auf der anderen Seite leicht abstürzen kann. Obwohl bis jetzt niemand abgestürzt ist. Der Steinbruch endet ganz plötzlich, wie wenn du eine Treppe hinaufsteigst, undplötzlich sind die Stufen zu Ende. Es ist sehr hoch. Von da oben kann man die Ipê-Fazenda sehen.
Inzwischen muss dort wieder jemand wohnen.
Maria Inês schüttelte den Kopf, während sie wie ein Baby auf der Ecke des Kissens herumkaute. Die Tochter der Familie hat das Land geerbt, sagte sie, aber sie hat alles verlassen und ist verschwunden. Sie hieß Lindaflor. Die Ärmste.
Tomás berichtete, dass er am Vorabend mit seinen Eltern telefoniert habe, dass es ihnen gutgehe, dass er ihnen von ihr erzählt habe und dass es in Santiago de Chile schneie.
Ich würde gern einmal Schnee sehen, meinte er kindlich versonnen. Warum besuchst du sie nicht?, schlug Maria Inês vor, was Tomás ein wenig betrübte: Und wäre so weit weg von dir?
Zwanzig Jahre ist auch das Alter, in dem man die wahre Größe der Dinge verkennt. In dem man die Welt wie in einem Zerrspiegel betrachtet.
Ohne mit dem Kauen auf der Kissenecke aufzuhören, ließ Maria Inês ein zartes, verführerisches Lächeln ihre Lippen umspielen. Tomás verstand das Signal und umarmte sie von hinten. Er bemerkte, dass sie im Nacken ein wenig schwitzte – dort an der kostbaren Stelle, wo winzige Löckchen wie Pflanzenkeimlinge aus der Haut sprossen. Die Küsse nahmen den salzigen Geschmack ihres Schweißes an, und sein Körper schmiegte sich an ihren.
In der Tiefe ihres Herzens aber hatte Maria Inês das düstere Bild der Ipê-Fazenda, ihren Anblick vom Gipfel desverbotenen
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