Der Sommer der Schmetterlinge
nicht, sagte sie.
Warum hast du dir dann die Geschichte mit dem Kino ausgedacht?
Keine Ahnung. Um ein bisschen spazieren zu gehen.
Als sie im Erdgeschoss ankamen und die Gittertür aufging, sagte Maria Inês: Vielleicht gehen wir ja wirklich ins Kino, was meinst du?
Etwa zehn Tage später erreichte sie Clarices Brief. Sie hatte ihn auf einem Papier geschrieben, auf das ihr Vorund Zuname gedruckt waren und das zum Umschlag passte, sehr vornehm, ein Geschenk von Ilton Xavier –der sie liebte, weil sie keine Geheimnisse hatte. Der Brief war förmlich und sauber gegliedert wie die anderen, mit thematisch unterteilten Absätzen und oberflächlichen Informationen über jeden und alles. Er berührte flüchtig Fragen wie Aussaat und Ernte, die Anzahl der Rinder, die Milchmenge, wechselte aber den Gegenstand, bevor er langweilig wurde wie ein technischer Bericht, sprach vom Klima, vom Regen, von einer Cousine, die Drillinge bekommen hatte, von einem neuen Kleid, von einigen Skulpturen. Erst in dem Otacília gewidmeten Abschnitt unterbrach Clarice diesen einschläfernden Rhythmus und wurde etwas ausführlicher, denn die Krankheit war inzwischen kein Geheimnis mehr, eine Krankheit, die die Ärzte nicht erkannten und die sie behandelten, als tappten sie im Dunkeln. Otacílias Stimmung war schlecht. Sie klagte über Gelenkschmerzen und große Erschöpfung, magerte weiter ab und hatte manchmal leichtes Fieber, aber sie war nicht bereit, einen Arzt in Rio de Janeiro aufzusuchen, sondern hielt den alten Ärzten der Familie die Treue, die in Jabuticabais und Umgebung lebten und eine auf Vitamine, Stärkungsmittel und weitgehende Bettruhe gestützte Medizin praktizierten.
Aus Maria Inês wurde nie eine gute Ärztin. Aber sie war neugierig genug, um – als das nicht mehr nötig war – den systemischen Lupus erythematodes zu diagnostizieren, der Otacília mehr als zehn Jahre lang quälte, bevor er sie umbrachte.
Clarices Brief schloss mit herzlichen Grüßen und legte Maria Inês nahe, sie doch recht bald zu besuchen. Zwischenden Zeilen schimmerte die Erinnerung an ein schiefes Lächeln durch.
Das Vorspiel.
Es fehlte nicht mehr viel.
Es fehlte nicht mehr viel.
Zweieinhalb, drei Stunden Fahrt. Eduarda war aufgewacht.
Mutter, wollen wir nicht mal eine kleine Pause machen?
Wenn es ins Gebirge hinaufgeht, halten wir an der Imbissbude, ja?
Die Parada Predileta.
Ja, unsere Lieblingsraststätte. Maria Inês lächelte. Als ihre Tochter klein gewesen war, hatten sie und João Miguel sie ein oder zwei Mal im Jahr auf die Fazenda mitgenommen, auch wenn Maria Inês diese Besuche im Nachhinein absurd erschienen. Für Eduarda war Clarice immer nur die merkwürdige, rätselhafte Tante Clarice gewesen. In einem Gespräch hatte sie aufgeschnappt, dass Clarice aus einer Entzugsklinik entlassen worden sei.
Mama, was für eine Klinik ist das?
Das ist so eine Art Schönheitsklinik. Tante Clarice hat sich dort einer Hautbehandlung unterzogen. Hast du gesehen, wie hübsch sie geworden ist?
Als Siebenjährige langweilte es Eduarda zu Tode, bei Tante Clarice herumzusitzen, die immer nur traurig vor sich hin starrte. Dafür aber gab es auf der Fazenda viele interessante Tiere: Pferde, Ochsen, Kühe, Hennen mit gelben Küken (einmal ertränkte sie ein halbes Dutzendbei dem vergeblichen Versuch, ihnen das Schwimmen beizubringen), Hunde, Katzen, Ferkel, Schafe, eine Ziege. Und es gab so besondere Menschen wie die alte Köchin, die abends am Herd Gruselgeschichten erzählte. Zum Beispiel die von einem Kampf zwischen dem heiligen Georg und dem Teufel, den sie oben auf einem Berggipfel gesehen habe. Sie behauptete auch, dass im Bambusdickicht Tiergerippe herumlägen und dass diese Gerippe in der Freitagnacht wieder lebendig würden und wehmütig heulend durch die Gegend irrten. Oder sie schwor, wenn eine Gruppe Reiter durch ein Tor ritte, springe der einbeinige Saci-pererê beim letzten hinten aufs Pferd. Diese Geschichten fesselten Eduarda, und sie wollte sie immer wieder hören, selbst wenn sie ihr später den Schlaf raubten. Doch mit den Jahren veränderte sich alles. Eines Tages hackte die alte Köchin mit einer Axt Holz, und ein großer Splitter durchbohrte ihr Auge. Sie erblindete und konnte nicht mehr arbeiten. Die Tiere verschwanden allmählich, sie starben und wurden nicht durch neue ersetzt. In Maria Inês begann ein verspätetes Unbehagen zu wachsen, eine nachträgliche Reaktion auf Ereignisse, die längst in Vergessenheit geraten waren.
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