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Der Sommer der Schmetterlinge

Der Sommer der Schmetterlinge

Titel: Der Sommer der Schmetterlinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adriana Lisboa
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Berenice bot ihm einen leuchtend roten Likör an, den sie dann am Nachmittag des Karsamstags auch Tomás offerierte, dazu einige Sahnekekse, die sie gerade gebacken hatte und die noch warm waren. Maria Inês aß die Kekse, indem sie sie einzeln in ihre Kaffeetasse tunkte. Auf der Fazenda hatte sie sich von klein auf daran gewöhnt, Kaffee zu trinken. Das hilft gegen Kopfschmerzen, Magenkrämpfe und andere Beschwerden, hatte die Köchin stets beteuert. Nach den Keksen, dem Kaffee und dem Likörverspürte Maria Inês eine angenehme Schwere, sie erhob sich aus dem Sessel und sagte: Gut, Tomás und ich gehen jetzt ins Kino, wir treffen ein paar Freunde.
    Er kannte ihre improvisierten Lügen, so dass er nicht einmal aufblickte von dem schönen Kristallglas, das er gerade betrachtete und auf dessen Boden noch ein kleiner rötlicher Kreis schimmerte. Großtante Berenice schmunzelte, und zerstreut streichelte sie einen alten Siamkater. Die Großtante wollte sich nicht in Spekulationen verlieren und hatte sich deshalb angewöhnt, stets das zu glauben, was man ihr offiziell mitteilte. So konnte sie etwa die Zeitung lesen und jedes Wort glauben. Getreu diesem Prinzip schenkte sie Maria Inês nun ihr pausbäckiges Lächeln, begleitete sie und Tomás zur Tür, warf ihnen, während sie am Fahrstuhl warteten, einen Kuss hinterher und rief: Viel Spaß! Dann schloss sie die schwere Tür aus massivem Holz, die ein bisschen in den Angeln knarrte, und lehnte sich von innen dagegen. Bevor sie an irgendetwas denken konnte, wurde sie von zwei im Fenster landenden Spatzen abgelenkt. Langsam ging sie auf sie zu, ganz langsam, und versuchte dabei, möglichst geräuschlos in ihren gefütterten Pantoffeln über den Parkettboden zu schlurfen. Doch die Spatzen spürten die Bewegung und flogen davon. Einfach davon. Enttäuscht hielt Großtante Berenice in der Mitte des Zimmers inne und fühlte sich ziemlich leer.
    Sie war die jüngste Schwester von Otacílias Mutter und die einzige, die in Rio de Janeiro wohnte. Im letzten Jahr des vergangenen Jahrhunderts geboren, empfand sie sichselbst als anachronistisch, als gehörte sie nicht in diese Zeiten. So war es ihr zum Beispiel unangenehm, Formulare auszufüllen und in der Zeile des Geburtsdatums vor jungen, rosigen Schalterdamen, die offenbar gerade erst den Kindergarten verlassen hatten, auf das 19. Jahrhundert zu stoßen.
    Großtante Berenice hatte in den zwanziger Jahren eine große Liebe gehabt: einen Musiker. Pianist. Der mit Heitor Villa-Lobos und Mário de Andrade befreundet gewesen war und an der Woche der Modernen Kunst in São Paulo teilgenommen hatte. In Rio unterrichtete er am Nationalkonservatorium und gab schöne Soloabende mit Musik von Beethoven und Schubert. Und natürlich von Villa-Lobos, einem Komponisten, dessen Musik Großtante Berenice nicht mochte, wie sie nichts von den Modernisten mochte, aber sie schämte sich, das zuzugeben. Trotz seiner stilistischen Neigung verliebte sie sich in den Pianisten, auch weil es noch Beethoven und Schubert gab, um ihn zu retten.
    Er hieß Juan Carlos und war ein Argentinier, der in Brasilien lebte, zwei Jahre älter als Berenice und herrlich großgewachsen. Sie liebte es, ihren Kopf an seine Schulter zu lehnen, die allein zu diesem Zweck geschaffen zu sein schien.
    Sie gingen zweieinhalb Jahre miteinander und verlobten sich dann. Am Ringfinger ihrer rechten Hand zeigte Berenice nun, während sie Beethoven und Schubert genoss und Villa-Lobos ertrug, eine Kostbarkeit aus Gold, Diamanten und einer einzigen unvergesslichen Perle. ImDezember des folgenden Jahres, sie hatte gerade einen weißen Pullover für ihn fertiggestrickt, musste Juan Carlos dringend nach Buenos Aires. Sich um einige persönliche Angelegenheiten kümmern. Einen Monat, rechnete er, werde er brauchen, höchstens zwei.
    Er brauchte dreißig Jahre und ließ Berenice sprachlos mit ihrem Verlobungsring am Finger und dem seltsamen Gefühl eines hohlen Brennens im Magen zurück. Stets glaubte sie, dass Juan Carlos jeden Augenblick kommen könne, und verpasste so unausweichlich das richtige Alter zum Heiraten. Als sie ihm dann 1956 im Stadtzentrum wiederbegegnete, war er als Tourist unterwegs, immer noch großgewachsen, inzwischen aber grauhaarig und in Begleitung seiner hübschen argentinischen Tochter, die nicht einmal Portugiesisch sprach. Aus Berenice war unterdessen eine Großtante geworden.
    Im Fahrstuhl küssten Maria Inês und Tomás sich wie erfahrene Liebende.
    Heute geht es

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