Der Sommer der Schmetterlinge
Irgendwann stellten sie die Reisen auf die Fazenda einfach ein. Maria Inês stimmte Clarices Wunsch zu, einen Großteil des Landes zu verkaufen, denn das auf der Bank angelegte Geld brachte mehr Gewinn als die Verpachtung. Und damit schienen die Dinge ein endgültiges Gleichgewicht erreicht zu haben.
An der Parada Predileta war die Luft bereits deutlich klarer und kühler. Der Parkplatz lag zu dieser frühenStunde verlassen da, kein Bus stand dort, und es gab auch keine Leute, die die Imbissbude mit dreckigen Servietten und Strohhalmen verschmutzt hätten. Ein barfüßiger Junge, dem die Nase lief, bot sich an, auf das Auto aufzupassen. An der Kasse nahmen Maria Inês und Eduarda die Zettel für ihre nicht eben große Bestellung entgegen.
Früher hätte Eduarda gefragt, ob sie nicht noch etwas kaufen könnten, Karamellcreme, ein Glas Chuviscos, Guavenpaste. An diesem Morgen jedoch wollte sie nichts, sie schwieg beharrlich. Sie gingen zur Toilette. Maria Inês kam als Erste heraus und rief Eduarda durch die Tür der Kabine zu: Ich warte draußen auf dich, ich hole mir einen Kaffee.
An der Wand neben der altertümlichen Kaffeemaschine hing ein kleines Poster mit einem Foto von John Lennon und dem übersetzten Text von Imagine . Maria Inês kniff die Augen zusammen und las. Stell dir vor, es gibt keine Länder. Das ist nicht schwer . Daneben hatte jemand mit Klebeband ein A4-Blatt befestigt, auf dem ein handgeschriebenes Gebet des heiligen Franziskus zu lesen war: Herr, mach mich zum Werkzeug deines Friedens . Maria Inês griff nach einer halbverbeulten Aluminiumkanne und füllte ihre Keramiktasse. Der Kaffee war zu dünn. Sie trank lieber starken Kaffee. Espresso. Wie in Italien.
Durch das seitliche Fenster der Parada Predileta sah man auf ein Flüsschen mit karamellfarbenem Wasser. Maria Inês dachte an Italien. An Venedig und seine stinkenden wohlriechenden Kanäle.
Ein langer Mensch von kurzem Wuchs, mit dickem Bauch, dünn war er auch, saß stehend.
Dann kam Eduarda und bestellte eine Tasse Tee. Die Kellnerin goss kochendes Wasser in ein Kännchen und tat einen namenlosen Beutel dazu, der Anis oder Melisse enthalten mochte.
Die Kanäle von Venedig. Das Florian, ein junger Mann namens Paolo.
Die Szene kehrte vollständig zu Maria Inês zurück. Sie betrachtete sie mit neuem Interesse, wie ein Autor, der sein vor zehn, fünfzehn Jahren geschriebenes Gedicht hervorholt und ein Komma verändert, ein Synonym findet (das er damals vergebens gesucht hat), einen Punkt hinzufügt, einen Reim ersetzt oder ganz tilgt. Eine Überarbeitung.
Plötzlich erinnerte sie sich sogar an die Farbe des Pullovers, den sie getragen hatte, ein Wollpullover, weil es an jenem Tag kühl gewesen war. Sie erinnerte sich an den Geschmack des Cocktails, den sie getrunken hatte, und vor allem an den schlechten guten Geruch, der den Spätnachmittag erfüllt hatte. Der ewige Traum: Venedig. Es war keine Hochzeitsreise, sie und João Miguel hatten vier Jahre zuvor geheiratet. Aber es war einer der Genüsse, die für ihn zum Leben gehörten, genau wie die maßgeschneiderten Anzüge und der zwölfjährige Whisky.
Venedig. Reisen. Italien. Hübsche Mädchen, hübsche Jungs.
Die kleine Eduarda mit ihren zweieinhalb Jahren war unter der Obhut einer Cousine in Brasilien geblieben.Maria Inês hatte für sie soeben eine Karnevalsmaske gekauft. Und ein paar Tierchen aus Muranoglas. Sie war glücklich und beschloss, Ansichtskarten zu besorgen – Ansichtskarten verschicken: Warum nicht? –, in denen sie erzählen würde, dass sie am Tisch eines früher von Casanova, Wagner und Proust besuchten Cafés saß. Warum nicht? Beschwingt stand sie auf und ordnete mit den Händen ihre langen Haare. Sie spürte ihren Körper, in dem Wollpullover war die Temperatur angenehm. Inmitten von unzähligen Tauben überquerte sie den Markusplatz, ging zu dem Postkartenkiosk und kehrte strahlend mit einem ganzen Stapel Karten zurück. Die oberste zeigte einen Kanal mit dunkelgrünem Wasser, ein Gebäude mit maurischen Fenstern, einen Baum mit verdorrten Zweigen vor einer nackten Mauer.
Ein schmerzhafter Stich, nicht mehr.
Da war jemand bei João Miguel. Ein ausgesprochen hübscher junger Mann. Sie unterhielten sich. Maria Inês trat näher und wurde höflich vorgestellt: Questa è mia moglie , Maria Inês, das ist Paolo.
Paolo setzte ein graziöses Lächeln auf, ein echtes Kunstwerk. Nach zwei oder drei liebenswürdigen, von João Miguel gedolmetschten Sätzen
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