Der Sommer der Schmetterlinge
einfach älter. Er verkaufte die Wohnung seiner Eltern, sehr billig, weil er schnell verkaufen wollte, und erwarb von Clarice diese schlichte Hütte, die jahrelang unbewohnt gewesen war. Er hätte sich ebenso gut an einem anderen Ort niederlassen können. Selbst in einem anderen Bundesstaat. An irgendeinem Strand in Rio Grande do Norte. In Santana do Deserto. In der Serra Gaúcha. In Mato do Tição. In Goiás Velho. Im Hinterland von Minas Gerais. Aber er war eben an diesem und keinem anderen Ort geblieben.
Oft unterhielt er sich mit Clarice über seine Reisen, sie mochte diese Geschichten. An dem Abend, als sie auf Maria Inês warteten, erzählte er ihr von der Chapada dos Veadeiros, vom Rio Araguaia und von der Serra do Ibitipoca, in deren Naturschutzgebiet man den Dingen so wunderbare Namen gegeben hatte wie Feenwasserfall, Himmelsfenster, Höhle der Bromelien, der Moreiras, der Entlaufenen. Dann sprach er über die sechs Monate, die er auf der Insel Fernando de Noronha zugebracht hatte, in einem Haus in Vila dos Remédios, in dem sich auch eine ausländische Biologin einquartierte, die das Verhalten von Delphinen erforschen wollte. Er begann eine Affäre mit der Biologin, doch nach seiner Abreise hatten sie sich nie wieder gesehen oder gesprochen oder geschrieben. Trotzdem überdauerten in Tomás’ Erinnerung einige wunderschöne Morgenstunden vor Sonnenaufgang, während deren sie zusammen die Delphine in der Bucht beobachtet hatten.
In all den Jahren, tatsächlich beinahe zwanzig, die zwischen dem Tod Afonso Olímpios, bei dessen Beerdigung sie sich kennengelernt hatten, und dem Tag vergingen, an dem sie Nachbarn wurden, blieben Clarice und Tomás in Kontakt. Was sie verband, war vor allem Maria Inês. Immer sie. Außerdem wusste Tomás, er kannte das Schwindelgefühl, mit dem ein Schmetterling über einen verbotenen Steinbruch flog.
Ein paar Frauen hatte er nach Maria Inês gehabt. Nicht viele. Keine von ihnen ähnelte einem Bild von Whistler oder von irgendwem sonst. Sie ähnelten nicht einmal den Porträts, die Tomás hin und wieder von ihnen malte.
Ich finde es erstaunlich, dass du nie geheiratet hast, sagte Clarice einmal, und danach erläuterte sie ihre Bemerkung, weil sie den Eindruck hatte, sie bedürfe einer Erläuterung: Du weißt, es ist schwierig, die vierzig zu erreichen, ohne wenigstens ein einziges Mal geheiratet zu haben.
Ich habe eine Weile mit einer Frau zusammengelebt, ungefähr zwei Jahre. Ist das eine Ehe?
Clarice zuckte mit den Schultern. Ich glaube, ja.
Bist du traurig, dass du keine Kinder hast?, fragte er.
Ja. Aber ich denke, dass die Kinder, die ich nicht bekommen habe, Glück hatten. Entschuldige, wenn das paradox klingt. Ich wäre keine gute Mutter.
Als Tomás am nächsten Morgen aufstand, war es acht Uhr, und die Perlhühner der Köchin Jorgina marschierten gackernd an seinem Zimmerfenster vorbei. Jorgina lebte nur wenige Minuten von Tomás entfernt in einem Schuppen, der mit Hilfe von Heiligenbildern an den Wänden, bestickten Tüchern auf den Möbeln, einem durch einen Vorhang abgeteilten Bettraum und gelegentlichen Enkelbesuchen in ein echtes Zuhause verwandelt worden war. Der Schuppen verfügte über keinerlei Kochgelegenheit, aber Jorgina verbrachte ohnehin den größten Teil des Tages in Tomás’ Küche. Früher hatte es auch kein Bad gegeben, aber Jorgina hatte noch nie in einem Haus mit Bad gewohnt. Sie ließ sich einen Verschlag über eine Abflussrinne zimmern, das war ihr Bad. Es hatte Wände aus Bambus, ein Strohdach und keinen Boden. Als Latrine diente die Rinne. Tomás fand das nicht völlig absurd, er hatte vielschlimmere Sachen gesehen, dennoch ließ er für Jorgina ein richtiges Bad bauen, und sie war ihm so dankbar, dass ihre Augen sich mit verlegenen Tränen füllten. Im Alter von sechzig Jahren nahm sie zum ersten Mal ein heißes Bad unter einer elektrischen Dusche.
Wie jeden Morgen kochte sie ihren süßen Kaffee und deckte den Tisch für Tomás: eine saubere Tasse, die Kaffeekanne, den Milchkrug und ein Blech mit Maisbrot. Sie beobachtete, wie er sich setzte. Er wirkte verändert, vielleicht war er krank, hatte Kopfschmerzen oder schlecht geschlafen. Er trank ein wenig Kaffee ohne Milch, zündete sich eine Zigarette an und rauchte bedächtig. Dann erhob er sich, zog die Schuhe an und ging.
Vielleicht war Tomás alt geworden, vielleicht hatte er bereits jene Hochebene erreicht, wo die schrofferen geographischen Formationen nach und nach verschwinden,
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