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Der Sommer der Schmetterlinge

Der Sommer der Schmetterlinge

Titel: Der Sommer der Schmetterlinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adriana Lisboa
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sagte.
    Arm in Arm spazierten sie durch die Gartenanlage des Hauses. Wie Cousin und Cousine zweiten Grades, die nie Geliebte waren, oder wie jene, die es heimlich sind. Clarice saß auf einer Bank an dem kleinen ovalen See, dessen Fontäne gerade schwieg. Sie blickte auf ihre Füße.
    Zwischen ihr und João Miguel gab es keine Nähe, und es würde sie auch nie geben. Trotzdem musste er etwas zu ihr sagen, musste einen Satz aus seinem Handbuch für gutes Benehmen auswählen und ihn in teilnahmsvollem Ton vorbringen. Das tat er, und beide entbanden sich von der Verpflichtung zu weiteren Gesten oder Worten. Die Blicke der beiden Schwestern begegneten sich in der Luft wie die Stiche einer Stickerei, ängstlich. João Miguel sah es nicht.
    João Miguel stellte keine Mutmaßungen an, er wurde nicht misstrauisch, dachte sich nichts.
    Der Wintermorgen zeigte sich in schüchternem Blau. Der Himmel war wolkenlos, aber die Sonnenflecke, die auf dem Boden tanzten, wärmten nicht. Am Abend und in der Nacht zeigte das Thermometer, das Ilton Xavier außen am Fenster angebracht hatte, vier Grad. Maria Inês’ schmale blasse Finger strichen sanft über João Miguels Pullover.
    Wir machen einen Spaziergang, informierte sie ihre Schwester. Kommst du mit?
    Mit einem angedeuteten Lächeln schüttelte Clarice den Kopf. Spielerisch drehte sie ihren Ehering um ihren dünnen Finger.
    Maria Inês und João Miguel verließen den Park durch die kleine Seitentür, durch die immer nur eine Person passte. Sie stiegen die fünf Zementstufen bis zu dem gewundenen, von Melissenkraut überwucherten Pfad hinab, der zur Hauptstraße führte. Überall dieselbe Erde, die João Miguels feine italienische Schuhe zu beschmutzen drohte.
    Jetzt bist du endgültig zurück, sagte sie in bestätigendem Tonfall, als wollte sie jeden Zweifel ausschließen.
    Ja, endgültig, antwortete er.
    Sie redeten nicht über jenen Nachmittag am Ufer eines honigfarbenen Sees, der nun fast ein Jahr zurücklag.
    Es ist so viel passiert, sagte João Miguel unbestimmt, und Maria Inês gab ihm recht, obwohl er nicht wissen konnte, wie schwer es ihr fiel, ihm recht geben zu müssen.
    Sie kamen an der primitiven, auf vier Pfählen über dem Boden erhöhten Holzhütte vorbei, wo leere Milchkannen darauf warteten, am nächsten Morgen durch volle ersetzt zu werden, die vom Laster der Kooperative abgeholt wurden. Kühe mit geschwollenen Eutern standen auf der Weide und wärmten sich in der Sonne. Mit ihren Schwänzen verjagten sie Bremsen und Schmeißfliegen, ansonsten bewegten sie sich nicht.
    Im Winter waren die Zecken die unangenehmsten Insekten. João Miguel wusste, dass das Gras von diesen winzigen, gemeinen Biestern nur so wimmelte.
    Ein zehnjähriger Junge ging an ihnen vorbei, er trug schwarze Gummistiefel, kurze Hosen und einen uralten hellblauen Wollpullover, der sich an seinen Rändern aufgelöst hatte und mit andersfarbiger Wolle ausgebessert worden war. Ihm lief die Nase, und er wischte sie mit dem Ärmel ab. In der rechten Hand hielt er eine über die Schulter gelegte Hacke. Er ging vorbei und grüßte.
    Tag.
    Tag, antwortete Maria Inês. Dann wandte sie sich miteinem Lächeln an ihren Cousin: Jetzt sprichst du sicher gut Italienisch.
    Ja, das stimmt.
    Ich finde es so hübsch.
    Sie sahen einen weißen Guirakuckuck aus dem Gebüsch auffliegen. Ihm folgten zwei, drei, fünf Vögel. Der Guirakuckuck war immer in Gruppen unterwegs.
    Das hübsche Italienisch, gesprochen von einem hübschen Italiener in der hübschesten Stadt der Welt. Venedig. Jahre später.
    Kurz vor dem Mittagessen kehrten Maria Inês und João Miguel ins Haus zurück und trafen Clarice in der Küche an, wo sie ihrer Schwiegermutter und den Angestellten half. Sie rieb Kokos für den Quindim-Pudding. Alle blieben weitgehend stumm, als könnten Worte jeder Art die zweifache Trauer entweihen: Mutter und Vater der beiden Mädchen im Abstand von weniger als einem Jahr. Die Ärmsten.
    Weniger als ein Jahr war auch die Zeit, die Clarice brauchen sollte, um die Ereignisse in sich gären zu lassen. Im Februar des darauffolgenden Jahres wurde sie siebenundzwanzig, und tatsächlich bemerkte fast niemand, wie es in ihr gärte – sie war immer noch dasselbe fügsame, zurückhaltende, demütige, wohlerzogene, höfliche, verschwiegene, anbetungswürdige Mädchen. Doch es kam der Tag, an dem sie es nicht mehr ertrug und zerbrach wie ein fehlerhafter, aus minderwertigem Material gebauter Staudamm. Sie zerfiel wie Putz, der von

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