Der Sommer der Schmetterlinge
nur noch selten besuchte.
Ich habe meine Muse verloren , schrieb er an seine Eltern an dem Nachmittag, an dem das Schiff unmerklich das von seinem Fenster aus sichtbare Stückchen Meer überquerte. Ich hoffe, es ist nur vorübergehend .
Das war es nicht.
Maria Inês hatte sich zurückgezogen, weil sie eine neue Maria Inês schuf, die ihr in den künftigen Jahrzehnten alsMaske dienen und die Mängel der früheren Maria Inês verbergen sollte.
Und während Tomás nach Chile schrieb, schrieb sie einen Brief nach Italien. Es war ein heißer Januarnachmittag, an dem die Zikaden ohne Unterlass zirpten. Großtante Berenices Katzen verteilten sich in der Wohnung wie Kitschfiguren. Die Großtante selbst trank schwarzen Tee, aß Toast und sah fern.
Dieses Jahr, das so vieles verändern sollte, hielt am Anfang alle ein wenig getrennt voneinander: Clarice lebte auf der Fazenda und kümmerte sich um ihre Ehe, die zum Scheitern verurteilt war. João Miguel reiste und studierte und spielte mit dem Gedanken, einen Ring für seine Cousine zweiten Grades zu kaufen und ihr die Verlobung vorzuschlagen – ohne zu wissen, dass diese längst besiegelt war. Afonso Olímpio zählte die Minuten, zählte die Sandkörner, die durch das Stundenglas rannen, und ertränkte seine Einsamkeit. Die Blumen auf dem Friedhof von Jabuticabais verwelkten und wuchsen, wie sie es immer getan hatten, schon lange bevor der neue Name auf dem Grabstein stand: Otacília.
Vielleicht waren sie alle wie die Zutaten für einen Kuchen. Für Sonntagsplätzchen. 3 Tassen Weizenmehl, 2 Tassen Zucker, Eigelb von 6 Eiern, Eiweiß von 3 Eiern, 1 Teelöffel Backpulver . Vielleicht waren sie alle Marionetten ohne Bewusstsein. Masken, die ihre Gesichter versteckten. Opfer eines Experiments, Labormäuse in den Händen eines Gottes, der ebenso erfindungsreich wie grausam, ebenso neugierig wie sadistisch war. Vielleicht warensie auch nichts und hatten die historische Bedeutung von Ameisen, die nach dem Regen in einer Pfütze ertrinken. Blüten, die um elf Uhr aufblühen und mit dem Nachmittag sterben.
Vielleicht hatte nichts je wirkliche Bedeutung gehabt und würde sie auch nie erlangen. Und die Geschichte, die sie alle einschloss, war nur ein kleiner Strich an der Wand, ein Kringel, den ein freches Kind mit Wachsstift hinterlassen hat.
Trotzdem steckte etwas unerträglich Schweres darin.
Als João Miguel Anfang August des Jahres, das so vieles veränderte, aus Italien zurückkehrte, hatte er einen Ring für Maria Inês im Gepäck. Sie trafen sich auf der Fazenda wieder, aber nicht im Haus ihres Vaters. Maria Inês wohnte bei Clarice. Afonso Olímpio war tot, seine Beerdigung hatte anderthalb Monate zuvor stattgefunden.
Es tut mir sehr leid, Maria Inês. Er umarmte sie und ärgerte sich über sich selbst, weil in ihm ein Streichholz aufflammte, als er ihr die Hände auf den Rücken legte und merkte, dass sie keinen BH trug. Das war nicht der richtige Moment für solche Anwandlungen.
Es ging so schnell, sagte er mit teilnahmsvoller Stimme. Ich meine, erst deine Mutter, dann er. Weniger als ein Jahr.
Er hat zu viel getrunken, sagte sie.
Das war alles, was sie João Miguel anzuvertrauen bereit war. Denn am Ende hatte sie sich für ihn entschieden, und sie wollte nicht für den Rest ihrer Tage in einen Spiegelsehen, der sie gnadenlos entblößte. Der sie daran erinnerte, wer sie war.
Den Ring hatte er in Venedig gekauft – jenem Venedig, wo es ein gewisses Café Florian gab. Das Café von Proust, Casanova, Wagner und einem hübschen jungen Mann namens Paolo. Der stehend auf einer steinernen Holzbank saß . Der Ring war teuer gewesen, wie alles in Venedig. Und jetzt steckte er in João Miguels Reisekoffer, in einer Seitentasche aus dunkelblauem Samt, und wartete auf das Ja von Maria Inês. Träumte vom Ringfinger ihrer rechten Hand.
Ich nehme an, damit hat niemand gerechnet, sagte er.
Doch, ich habe damit gerechnet, unterbrach ihn Maria Inês. Du weißt nicht, in was für einem Zustand er war. Fertig. Ein Säufer.
Du solltest nicht so über deinen eigenen Vater reden.
Sie antwortete nicht.
João Miguel bemerkte nicht, dass ihre Worte frei von Wut oder Schmerz waren, dass sie nur die Wahrheit aussprachen. Dass das Feuer in ihren Augen auf rätselhafte Weise erloschen war und dafür jetzt die Angst in irgendeinem Winkel ihrer Seele hauste: unsichtbar, fast nicht wahrnehmbar. Es war auch diese Angst, die angesichts des schönen, in Venedig gekauften Rings ja
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