Der Sommer der Schmetterlinge
vernebelten, und das war gut so. Aber es stimmte auch, dass der Schmerz immer noch in ihr bohrte, nur tiefer und stärker.
In den Jahren vor 1500 hatten portugiesische Schiffe den Atlantik erkundet, erinnerte Clarice sich an eine Geschichtsstunde, und fast liebevoll stellte sie sich die geblähten Segel vor, und fühlte sich selbst wie ein Frachter oder eine Karavelle – sie befand sich mitten auf dem Ozean, es herrschten schreckliche Stürme und furchtbare Flauten, Hunger, Durst und Krankheit, man konnte nichts tun außer beten, aber Clarice hatte keine Lust zu beten, sie war müde, sehr müde. Wohin sie auch blickte, überall war Meer, der unermessliche Ozean.
Ein schmerzhaftes Stechen im Magen und ein Zug an der Zigarette.
Der Mann riss Clarice die Kleider herunter, und sie spürte es kaum. Das dunkle Zimmer. Seine Hände auf ihren abgemagerten Pobacken. Nach einer halben Stunde ging der Mann hinaus, sagte, er wolle etwas zu essen kaufen. Auf Clarices Lippen lag ein Plastiklächeln, das ihr nicht gehörte. Es war, als hätte sie das Lächeln gestohlen und präsentierte es nun wie ein Paar Ohranhänger oder eine Tasche. Dieses idiotische Lächeln erstarrte in ihrem Gesicht, sie lächelte selbst dann noch, als es nicht mehr nötig war.
Der Mann geht hinaus.
Sie ist achtunddreißig Jahre alt.
Die Sache hat nicht funktioniert, schade. Und im Epizentrum von allem … Clarice weiß, was sich im Epizentrum von allem befindet. Sie ist zur Schule gegangen, ist herangewachsen, hat viele Skulpturen angefertigt und einige Freundschaften geknüpft, hat geheiratet und sogar gelernt, Kreuzstich zu sticken. Wozu?
In einer Nachbarwohnung hält jemand einen Kanarienvogel, und der kleine Sänger scheint sich die Seele aus dem Leib singen zu wollen. Verzweifelt singt er, um ein Weibchen anzulocken, das jedoch nie kommen wird, denn Kanarienvogelweibchen pflegen sich nicht mit eingesperrten Männchen zu paaren. Selbst wenn zufällig eines vorbeifliegen sollte, was ziemlich unwahrscheinlich ist. In irgendeiner Küche trällert eine Frau mit kräftiger Stimme beim Abwaschen vor sich hin. Clarice hört die Teller klappern. Dann weint ein Kind, und die Frau mit der kräftigen Stimme stößt einen Fluch aus. Der Kanarienvogel aber singt weiter.
Gründlich.
Das Olfa-Messer liegt auf dem abgenutzten Holztisch, auf den jemand mit blauem Kugelschreiber Ronaldo liebt Viviane geschrieben hat. Daneben ein Plastikteller mit einem alten, harten Stück Brot darauf. Ein von Zigarettenkippen überquellender blattförmiger Aschenbecher aus Glas. Und eine Pornozeitschrift, deren Titelbild eine auf einer Harley-Davidson sitzende Blondine mit großen Brüsten, leicht geöffneten Lippen und langen Lederstiefelnzeigt. An der Decke dreht ein Ventilator träge seine Flügel, zu träge, um die dicke Luft, in der ein Geruch nach Schimmel und Tabak hängt, zu bewegen.
Im Bad gibt es eine schmutzige weiße Keramikbadewanne, weil es in solchen Fällen immer eine Badewanne gibt.
Clarice sieht sich selbst zu.
Als die scharfe Klinge die Haut an ihrem Handgelenk öffnet, mehrere dunkle Gefäße findet und sie mühelos durchtrennt, gelingt es Clarice endlich, ihr eigenes Lächeln zu lächeln. Weil sie keinen Schmerz mehr spürt. Sie ist frei wie der Unsterbliche, der die Gnade der Sterblichkeit wiedererlangt, und das Blut, das das Wasser in der Badewanne trübt, wird zum Element einer ganz individuellen Kommunion.
Ruhig schließt sie die Augen. Sie ist fast glücklich.
Auf dem Tisch, genau auf der Pornozeitschrift, landet eine Fliege, läuft zwischen den Brüsten der großbusigen Blondine hindurch und über die Räder der Harley-Davidson. Dann frisst sie ein paar Brotkrumen.
Der Smaragdring war von absurder Schönheit. Er lag eingebettet in ein mit dunkelblauem Samt ausgeschlagenes Schächtelchen, ähnlich dem, in welchem nur drei Jahre zuvor der Verlobungsring gelegen hatte.
Zu ihrer Abschlussfeier war Maria Inês perfekt gekleidet. In Rot. Eine Farbe, die zur Blässe ihrer Haut und zum dichten Schatten ihrer Haare passte. Eine Symphonie in Rot . Als sie nach vorn ging, um das Diplom in Empfangzu nehmen, folgten ihr die beiden Männer ihres Lebens mit Blicken und versuchten vergeblich die Zukunft vorauszuahnen. In den Armen ihrer Kinderfrau spielte die kleine Eduarda – sie war ein Jahr und wenige Monate alt – mit dem rosafarbenen Bändchen, mit dem der Schnuller an ihrem Kleidchen befestigt war. Tomás saß nah genug, um das Mädchen zu sehen. Die
Weitere Kostenlose Bücher