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Der Sommer der Schmetterlinge

Der Sommer der Schmetterlinge

Titel: Der Sommer der Schmetterlinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adriana Lisboa
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Kugelschreiber Ronaldo liebt Viviane geschrieben hatte. Auf dem außerdem ein Plastikteller mit einem alten, harten Stück Brot und ein von Zigarettenkippen überquellender blattförmiger Aschenbecher aus Glas stand. Neben einer Pornozeitschrift, deren Titelbild eine auf einer Harley-Davidson sitzende Blondine mit großen Brüsten, leicht geöffneten Lippen und Lederstiefeln zeigte.
    Erst eine Woche nachdem sie ihn verlassen hatte, meldete Clarice sich bei Ilton Xavier. Sie schrieb nicht auf dem vornehmen Papier mit ihren Initialen, weil sie es nicht mitgenommen hatte. Die Sätze flossen ihr aus einem gewöhnlichen Kugelschreiber und verteilten sich über das Blatt eines billigen Schreibblocks, das sie anschließend zwei Mal faltete und in einen Luftpostumschlag steckte. Länglich, mit gelb-grün gestreiftem Rand. Ein Brief an Ilton Xavier und ein fast wortgleicher Brief an Maria Inês.
    Sie schrieb, dass sie allein bleiben wolle. Deshalb schicke sie auch keine Adresse. Aber es gehe ihr gut. Da seien einige persönliche Angelegenheiten, über die sie gründlich nachdenken müsse.
    Maria Inês wusste, was für Angelegenheiten das waren, Ilton Xavier nicht. Mit seinem nicht besonders weit reichenden Vorstellungsvermögen glaubte er, es handelesich um einen anderen Mann. Er wurde wütend, sortierte alles aus, was Clarice zurückgelassen hatte, füllte damit zwei Kisten und schickte sie an die Adresse von Maria Inês in Rio de Janeiro. Später verstand er und verzieh, nicht zuletzt, weil das ein Teil seines Wesens war. Er heiratete wieder, bekam ein paar Kinder, wurde glücklich und kaufte sogar den roten Pick-up, von dem er immer geträumt hatte.
    Clarice freundete sich mit Lindaflor an, die sie ihrerseits einigen Freunden in Friburgo und Umgebung vorstellte. Eine Weile kamen sie in der Wohnung eines Bekannten von Lindaflor in Lumiar unter, wo sie den ganzen Tag Haschisch rauchten und mitunter aus Pilzen einen Tee kochten. Clarices neue Freunde lasen Castañeda und behaupteten, das alles seien Mittel, mit deren Hilfe man auf andere Bewusstseinsebenen gelange. Später entdeckte Clarice außerdem, dass Kokain ihr ein intensiveres Lebensgefühl gab und dass Alkohol sie betäubte.
    Alle diese Dinge kosteten Geld. Also suchte sie sich verschiedene Jobs, die sie nie lange ausübte: erst als Empfangsdame in einer Fremdsprachenschule, dann als Verkäuferin in einem Schuhgeschäft, danach als Küchenhilfe in einem deutschen Restaurant, in dem sie lernte, Wurst mit Kartoffelsalat und Rotkohl zuzubereiten. Irgendwann wurde es zu teuer, in Pensionszimmern zu leben. Fünf Monate wohnte sie bei Lindaflor in Friburgo. Dann zog sie nach Cordeiro, wo eine Freundin jemanden brauchte, der auf ihre Tochter aufpasste. Dort blieb sie fast ein Jahr. Danach ging sie nach Niterói, kehrte wiedernach Friburgo zurück und versuchte eine Weile, in Teresópolis Skulpturen zu verkaufen.
    Bis ihr schließlich alles entglitt. Die Begriffe von Raum und Zeit und das Gefühl für den eigenen Körper. Sie traf einen Mann, der sie in ein dunkles Pensionszimmer in einem Vorort von Rio mitnahm. Es spielte keine Rolle, wo sie waren. Er kaufte Whisky für Clarice, und sie hatten Kokain. Manchmal verschwand er für drei oder vier Tage, kam jedoch immer wieder zurück. Einmal brachte er ihr als Geschenk eine Katze mit, aber die Katze lief bald davon. Vielleicht, weil sie ihr nicht genug zu fressen gaben. Dann, eines Tages, fand Clarice das Olfa-Messer.
    Sie fühlte sich so glücklich, wie sie es in den letzten fünfzehn, zwanzig Jahren nicht gewesen war. Jetzt war es endlich möglich.
    Vergessen.
    Gründlich.
    Sie war achtunddreißig Jahre alt. Zwar wusste sie nicht genau, wo sie sich befand, aber immerhin gab es keine Fenster, die man aus Angst vor Moskitos schließen musste. Und dieser Kerl beschützte sie. Versorgte sie mit den wesentlichen Dingen: Alkohol und Kokain. Ihr Ehering war längst verkauft. Er hatte eine anständige Summe eingebracht, denn es war hochwertiges Gold gewesen.
    Ilton Xavier und seine Eltern waren wahrscheinlich gerade in der Kirche. Sie wusste es nicht. Es spielte keine Rolle.
    Die Zeit war vergangen, das stimmte, doch jetzt hatte Clarice den Eindruck, dass sie alle Bezugspunkte verlorenhatte: Dies war das Labyrinth ohne den Faden der Ariadne. Ein breiter dunkler Tunnel. Ein rundes Aquarium für ein rotes Fischlein. Es stimmte, dass sie nicht mehr so viel nachdachte, in dem Sinne, dass die Drogen und der Alkohol ihr das Hirn

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