Der Sommer der silbernen Wellen: Roman (German Edition)
richtig gewesen, als ich in seinen Augen diese Unbarmherzigkeit gelesen hatte. Doch offenbar war er mehr als nur unbarmherzig: Er war grausam.
»Lass uns abhauen«, sagte Simon harsch und schaltete die Autoscheinwerfer ein. »Bleibst du bei mir?«
»Ich bleibe bei dir.« Mir war speiübel, aber ich wollte es mir nicht anmerken lassen. Die starre Leere des Schocks in seinen feuchten Augen brachte auch mich zum Weinen. Er sah sich gar nicht mehr ähnlich.
Simon lenkte den Wagen auf die Straße. »Ich möchte einfach nur fahren«, sagte er und trat aufs Gas. »Egal wohin, Hauptsache weg von hier.«
Instinktiv hielt ich mich am Handgriff fest, als Simon auf die Dune Road abbog, und biss mir auf die Unterlippe, als die Tachonadel immer höher kletterte. Dann hielt Simon plötzlich mit quietschenden Bremsen an.
»Oh, das hatte ich glatt vergessen.« Simon stieß ein trockenes Lachen aus, als die Scheinwerfer auf ein dreieckiges Warnschild schienen: Sackgasse. Wir waren am Shinnecock Inlet angelangt und konnten nicht mehr weiter. Der Motor blubberte und ging aus. Simon umklammerte das Steuer mit hängendem Kopf.
»Was ist passiert?«, drängte ich ihn sanft.
Er legte den Kopf auf das Lenkrad. »Ich habe es herausgefordert.« Er blickte hinauf zum Himmel, schloss die Augen und lehnte sich im Sitz zurück. »Meine Kommentare über unser übliches Thema bei Tisch waren schon schlimm genug, aber am meisten hat ihn mein Hohn über seine Kunstsammlung getroffen. Er war stinksauer darüber, dass ich ihn vor deinen Verwandten bloßgestellt habe. Ich habe ihm gesagt, er hätte sich doch selbst blamiert. Er sei eben ein ungehobelter Idiot, der versuchen würde, sich nur durch sein Geld Respekt zu verschaffen, und das sähe ihm jeder gebildete Mensch schon von weitem an. Aber so etwas sagt man nicht ungestraft zu meinem Vater. Besonders dann nicht, wenn er getrunken hat.«
»Autsch«, sagte ich leise. »Wenigstens warst du nicht so brutal«, fügte ich hinzu, ein wenig neckend, um meine Sorgen zu überspielen. Ich wollte ihn nicht noch mehr belasten.
Simon lächelte ansatzweise, zündete sich eine Zigarette an und starrte hinaus in die Dunkelheit. Außerhalb der Scheinwerferkegel konnten wir nicht viel erkennen, aber man spürte das Wasser draußen in der Bucht wie eine Präsenz, wie etwas Lebendiges. Im Hintergrund, irgendwo zu unserer Linken, hörte man gedämpft das Rauschen der Wellen an den Atlantikstränden.
»Ich hätte am liebsten zurückgeschlagen«, sagte Simon, drehte sich zu mir um und sah mich an. Seine Stimme klang unsicher. »Aber ich konnte es nicht. Ich weiß nicht, ob ich Angst hatte. Ich konnte es einfach nicht. Und da hat mein Vater mich nur angesehen, Mia. Als sei ich ein Stück Dreck. Und er hat gesagt, wenn ich ein Mann wäre, würde ich mich wehren.«
»Dummes Geschwätz«, murmelte ich und wollte Simons Hand nehmen. Aber er umklammerte fest das Lenkrad, als führe er noch.
»Ich weiß nicht …« Simons Stimme erstarb. »Vielleicht hat er recht.«
»Nein, hat er nicht!«, entgegnete ich heftig. »Er ist ein brutaler Mistkerl!«
»Und ich bin ein Feigling.«
»Sag doch nicht so was! Das stimmt doch gar nicht!«
»Doch.« Simon seufzte und fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. »Aber lieber bin ich ein Feigling als ein Arschloch wie er.«
»Hör auf!«, sagte ich sanft und legte Simon die Hand auf den Arm. »Jetzt hack doch nicht auf dir herum.«
Simon schwieg einen Moment, und wieder sah ich Tränen in seinen Augen glänzen, obwohl er den Blick starr geradeaus gerichtet hielt. »Ich habe zu ihm gesagt, dass ich ihn hasse. Dass er mich krank macht.« Simon schniefte und wischte sich ungeduldig mit dem Handgelenk über die Augen. »Und dann bin ich abgehauen. Ich wollte nur noch weg, weg von ihm. Weg aus diesem Haus … Und hier stehen wir jetzt.« Wieder sah er mich an, trübsinnig lächelnd. »In einer Sackgasse.«
»Wir könnten umkehren«, schlug ich vor. »In die andere Richtung fahren.«
Simon schüttelte den Kopf. »Nein, wir würden auch nicht weit kommen.« Er lachte heiser. »Nicht in dieser alten Karre. Schön, aber unnütz. Auf lange Sicht keine sichere Sache.«
Ich hob die Hand, und diesmal erlaubte Simon, dass ich ihm sanft mit den Fingern durch die Haare fuhr. »Wir könnten schwimmen gehen«, sagte ich.
»Ja?« Simon nahm meine Hand und umschloss sie mit beiden Händen. Ich warf ihm mein verführerischstes Lächeln zu.
»Wozu hast du die mitgenommen?«, fragte ich, als
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