Der Sommer der Toten
verschlossene Reagenzglas am Plastikstopfen zwischen die Zähne und legte sich auf den Bauch. Vorsichtig kratzte er im Erdreich herum und versuchte eine brauchbare Probe auf den schmalen Spatel zu bekommen. Nach mehreren erfolglosen Versuchen – die Probe rutschte immer vom Spatel und fiel in das Grab hinein – gelang es ihm, die Probe zu behalten, während er mit der anderen Hand am Reagenzglas zog, damit er nur noch den Stopfen im Mund behielt.
Während er die Probe ins Reagenzglas füllte, hörte er, wie der Kies hinter ihm knirschte, als sich Schritte näherten. Er nahm den Stopfen aus dem Mund.
„Wird ja auch Zeit, dass du wieder kommst, Bianca“, sagte Klaus, während er den Stopfen auf das Reagenzglas setzte.
Er bekam keine Antwort. Jetzt fiel ihm auch auf, dass das eigentlich gar nicht Biancas Schritte sein konnten. Bianca lief viel schneller und forscher. Aber wer zum Henker verirrte sich nachts auf diesen Friedhof?
Er drehte sich um.
9.
„Was steht uns noch alles bevor?“, fragte Anna. Bianca konnte deutlich ihren verzweifelten Unterton hören.
„Ich weiß es nicht“, antwortete sie aufrichtig. „Ich weiß gar nicht mal, ob ich das überhaupt wissen will.“
„Da ist noch was“, sagte Pfarrer Schuster.
„Was denn?“ Bianca spürte, dass sie so langsam die Geduld mit dem Mann verlor. Ihr wäre deutlich lieber, wenn er gleich mit den Tatsachen herausrücken würde, anstatt jedes Mal erst einen Staatsakt zu veranstalten.
„Nach seiner Hinrichtung wurde der Wanderer von den Bewohnern des Dorfes nachts heimlich vom Kreuz geholt und an einer Wegkreuzung begraben. Da der einzige Priester im Ort ja von dem Wanderer getötet wurde, hatten sie improvisiert und ihm ein möglichst würdiges Begräbnis zuteil werden lassen. Diese Form der Dankbarkeit hatten übrigens zwei Männer im Dorf mit dem Leben bezahlt. Sie wurden dafür enthauptet. Das Grab wurde zwar von den Häschern des neuen Herrschers gesucht, aber nie gefunden. Erst nachdem dieser von den Bewohnern gelyncht wurde, hatten die Bewohner des Dorfes ein Wegekreuz gebaut. Es galt als das prächtigste hier in der Umgebung. Sie hatten es direkt auf dem Grab des Wanderers errichtet. In der Zwischenzeit kam auch ein neuer Priester in das Dorf. Er war das genaue Gegenteil von Vater Inquisitor und half den Bewohnern, die traumatische Vergangenheit zu bewältigen – eben so gut, wie er konnte. Die Bewohner baten ihn, das Kreuz zu weihen. Sie hofften, durch diesen Trick den Wanderer doch noch in geweihter Erde bestatten zu haben.“
„Und?“, fragte Bianca ungeduldig. „Was dann?“
„Das Kreuz überstand all die Jahrhunderte, Kriege, Plünderungen, Brandschatzungen. Es war eines der ältesten erhaltenen Wegekreuze in diesem Land. Bis gestern Nacht. Wie ich heute von der Feuerwehr erfahren habe, ist es aus unerfindlichen Gründen abgebrannt. Wenn nicht zufällig ein Nachtwanderer das Feuer bemerkt hätte und über sein tragbares Telefon die Feuerwehr alarmiert hätte, hätte das Feuer womöglich auf den Wald übergegriffen. Was das nach dieser langen Trockenperiode bedeutet, können Sie sich ja vorstellen. Die Feuerwehr ist im Moment ratlos. Brandstiftung kann weitgehend ausgeschlossen werden. Niemand weiß, wie dieses Kreuz in Brand geraten konnte.“
„Ich habe noch keine Ahnung, ob ich jetzt nervös werden sollte“, sagte Bianca unsicher, „aber merkwürdig ist das schon. Das muss ich zugeben.“
„Es ist, als würde uns der Wanderer mitteilen, was er von dieser Dankbarkeit hält“, sagte Anna düster.
Bevor jemand auf diese Äußerung eingehen konnte, drang vom Friedhof her ein markerschütternder Schrei ins Wohnzimmer des Priesters.
10.
Es dauerte keine halbe Minute, bis die drei aus dem Pfarrhaus auf den Friedhof gestürmt waren.
Klaus lag auf dem Boden und robbte rücklings von einem Mann weg, der auf dem Kies lag.
Bianca rannte hin. Als sie erkannte, wer da lag, setzte ihr Herz ein paar Schläge aus. Kurz darauf war der Pfarrer hinter ihr.
„Herrgott im Himmel!“, fuhr er auf. „Wer hat Ihnen gestattet die Leichen aus dem Beinhaus zu holen?!“
„Was?!“, kreischte Klaus schrill. Seine Stimme drohte zu kippen. „Der Typ stand vor mir und als ich aufgeschrieen habe, ist er umgekippt! Was redet der Kerl für einen Scheiß?“
„Klaus“, sagte Bianca so ruhig wie möglich.
„Wollt ihr mich hier verarschen?!“, kreischte Klaus weiter. „Wenn ihr das witzig findet, muss ich euch enttäuschen!“
„Klaus,
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