Der Sommer der Toten
verhaften. Das Gesicht des Richters möchte ich gerne mal sehen, wenn Sie einen lebenden Toten als Mörder anschleppen.“
„Der müsste wohl freigesprochen werden“, stöhnte Kellermann verzweifelt. „Kein Gesetz verbietet einem Toten in Deutschland, lebende Menschen umzubringen.“
„Ein echtes Dilemma“, erwiderte Bianca grinsend. „Aus dieser Warte habe ich es noch gar nicht betrachtet.“
„Und ich möchte lieber nicht daran denken“, brummte Kellermann säuerlich. „Versuchen Sie nur mal, einen Toten lebens länglich zu verknacken.“
„Hübscher Kalauer“, stimmte Bianca lächelnd zu. „Aber damit lösen wir leider nicht unsere Probleme.
„Also diese junge Frau hier ist in Gefahr“, fasste Kellermann zusammen, während er auf Anna deutete. „Ich klammere erst einmal die unglaubliche Geschichte aus, die Sie mir erzählt haben, Frau Doktor Wallmann. Würde es etwas bringen, wenn wir ihr Polizeischutz gewähren?“
„Da bin ich überfragt“, gab Bianca unumwunden zu. „Aber fragen wir doch den Experten in der Runde. Werner – wäre großangelegter Polizeischutz eine Möglichkeit, Anna zu beschützen?“
Nein.
Bianca hob resigniert die Schultern. Kellermann seufzte übellaunig.
„Wieso habe ich nur mit dieser Antwort gerechnet?“, fragte er düster.
„Vielleicht muss man erst eine Gefahr kennen, bevor man sich effizient vor ihr schützen kann“, schlug Bianca vor.
„Ich denke, Sie wissen es schon“, erwiderte der Kommissar verständnislos. „Ich denke, Sie glauben selbst an diese Gruselgeschichte.“
„Woran ich glaube, weiß ich selbst nicht“, widersprach Bianca. „Und selbst wenn: Was wissen wir? Lediglich von den Toten, die wahrscheinlich wieder zurückkehren, um das Kaff hier nach allen Regeln der Kunst gründlich aufzumischen. Aber was genau ist Annas Rolle in dieser Geschichte? Wenn sie nicht an ihren Stigmata verblutet, wer wird ihr dann ans Leder gehen?“
„So wie ich das verstanden habe, war der Pfarrer einer von vieren“, sagte Kellermann.
„Dann fehlen immer noch drei“, entgegnete Anna.
„Ich glaube, die stehen in der Gute-Nacht-Lektüre der Frau Doktor“, vermutete Kellermann und deutete auf das Buch, das Werner ihr vor die Füße geworfen hatte.
„Einen Moment“, unterbrach Bianca. „Das mit der Frau Doktor lassen wir jetzt wieder. Darauf habe ich bestanden, um ein wenig auf den Putz zu hauen.“
„Ein wenig?“ Kellermann lachte auf.
„Nennen Sie mich, wie Sie möchten. Frau Wallmann, Bianca oder meinetwegen auch Rotzgöre. Aber dieses Gedönse mit den akademischen Graden konnte ich in Wirklichkeit noch nie leiden.“
„Rotzgöre gefällt mir am besten“, entgegnete Kellermann lachend. „Also gut, Bianca. Ich heiße Horst. Bei dieser verrückten Geschichte können wir tatsächlich auf übertriebene Formalitäten verzichten.“
„Gut“, sagte Bianca zufrieden. „Dann wäre das schon mal geklärt. Und jetzt will ich noch was von Werner wissen.“
Sie wandte sich wieder dem lebenden Toten zu, der nach wie vor unbeweglich an der Tür stand.
„Werner“, sagte sie. „Angenommen, du tötest die vier. Wäre Anna dann in Sicherheit?“
Von Werner kam keine Reaktion.
„Verdammt“, Bianca merkte, wie sie immer nervöser wurde. „Hast du meine Frage verstanden, Werner?“
Ja.
„Kannst du die Frage, wie ich sie gestellt habe, beantworten?“
Nein.
„Weißt du, ob Anna dann in Sicherheit wäre?“
Nein.
„Glaubst du es?“
Nein.
„Hoffst du es?“
Ja.
„Es kann also auch genauso gut sein, dass du vier Menschen abmurkst und Anna ist nach wie vor in Gefahr?“
Ja.
„Dann kannst du es auch genauso gut lassen.“
Nein.
„Wie bitte?“ Bianca war entsetzt.
Nein.
„Wieso nicht?“
Die letzte Frage war Bianca nur so herausgerutscht. Sie hatte keineswegs mit einer Antwort gerechnet.
Doch Werner setzte sich erneut in Bewegung, wankte auf Bianca zu und legte seine Hand auf das Buch, das Bianca immer noch in den Händen hielt.
Danach bewegte er sich wieder rückwärts an die Tür.
„Es steht auch hier drin?“, hakte Bianca nach.
Ja.
„In dem Textausschnitt, den ich lesen soll?“
Ja.
„Dir ist hoffentlich klar, dass wir das nicht zulassen können, Werner“, sagte Anna.
Ja.
„Ich will das auch nicht. Ich will nicht, dass du für mich tötest.“
Anna baute sich vor Werner auf.
„Bitte lass es!“, bat sie eindringlich.
Nein.
Bianca stellte sich neben Anna auf und blickte Werner fest in dessen tote
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