Der Sommer der toten Puppen
Schuld sühne man nicht, man trage sie. Vielleicht hatte sie recht. Und vielleicht war der Zeitpunkt gekommen, einen Schritt zurückzutun, zuzulassen, dass die Gerechtigkeit ihren Lauf nahm, mit allen Konsequenzen. Schluss damit, Gott zu spielen, sagte er sich. Soll jeder seine Schuld tragen. Soll die Wahrheit ans Licht kommen. Der Herr vergebe mir, was ich getan und unterlassen habe, und schenke den Toten die ewige Ruhe.
»R.I.P.« stand auf dem Zettel, den er am Nachmittag auf dem Sattel seines Fahrrads fand, festgesteckt an einem leblosen Kätzchen. Aleix musste seinen ganzen Ekel überwinden, um es von dort wegzunehmen, und noch Stunden später hatte er das Gefühl, an seinen Fingern klebe der Geruch des toten Tiers. Ihm lief die Zeit davon, und die Lösung seines Problems rückte immer weiter in die Ferne. Man musste kein Hellseher sein, um zu wissen, wer diese Botschaft geschickt hatte und was sie bedeutete. Bis Dienstag blieben nicht viel mehr als achtundvierzig Stunden. Er hatte Rubén mehrmals angerufen, aber keine Antwort erhalten. Was an sich schoneine Botschaft war, dachte er. Die Ratten verlassen das sinkende Schiff. Er war jetzt völlig auf sich gestellt.
Eingeschlossen in seinem Zimmer, ging Aleix alle Möglichkeiten durch. Glücklicherweise funktionierte sein Gehirn noch, egal wie groß der Stress war, auch wenn etwas Koks ihm geholfen hätte, manche Zweifel zu zerstreuen. Und während er zusah, wie der Himmel hinter dem Fenster dunkel wurde, begriff er, dass er keine andere Wahl hatte. Es mochte ihn die größte Überwindung seines Lebens kosten, es mochte sich ihm der Magen umdrehen, wenn er nur daran dachte, aber es gab nur eine Person, an die er sich wenden konnte. Edu würde ihm das Geld geben. Wohl oder übel. Er wollte sich nicht weiter den Kopf zerbrechen, und so verließ er sein Zimmer und ging mit raschem, hektischem Schritt zum Zimmer seines älteren Bruders.
35
Leire holte den Inspektor vor dem funkelnden Torre Agbar ab, diesem blau-roten, wie aus den Straßen Tokios gerissenen Bürohaus-Monolithen. Sie stellte ihm keine Fragen und sprach ihn auch nicht auf sein erschöpftes Aussehen an. Er trug noch dasselbe Hemd, in dem sie ihn am Morgen gesehen hatte, und redete langsam, als kostete es ihn Kraft. Doch während sie ihn über die Aussage von Rubén ins Bild setzte, erschien in seinen müden Augen ein kleines interessiertes Leuchten.
»Tut mir leid, dass ich es auf eigene Kappe gemacht habe«, sagte sie, als sie mit ihrem Bericht endete.
»Dann ist es eben so«, sagte er nur.
»Ist Ihnen klar, dass wir einen Zeugen haben, Inspektor? Ein Zeuge auf Drogen, der glaubt, er hätte gesehen, wie jemand Marc Castells hinuntergestoßen hat. Nicht gerade die Zeugenaussage des Jahres, aber ich könnte schwören, dass er die Wahrheit sagt.«
Héctor versuchte sich auf den Fall zu konzentrieren, so schwer es ihm fiel. Als sie ins Zentrum der Stadt kamen, dachte er, dass er mit ihr essen gehen könnte, und etwas schüchtern lud er sie ein. Falls es ihr seltsam vorkam, sagte sie es nicht, wahrscheinlich weil sie tothungrig war und es zuhause nichts gab, worauf sie Appetit hatte.
»Mögen Sie chinesisch?«
»Ja«, log er. »Und siez mich nicht. Zumindest für eine Weile.« Er lächelte ihr zu und sprach leise weiter, dachte daran, dass er am nächsten Tag womöglich kein Inspektor mehr war, sondern nur noch ein Mordverdächtiger. »Oder für immer.«
Sie verstand den Satz nicht ganz, ahnte aber, dass für Fragen kein Platz war, und sie verbiss es sich.
»Wie du willst. Aber wir teilen uns die Rechnung.«
»Das niemals. Meine Religion verbietet es.«
»Ich hoffe, sie verbietet dir nicht auch, Ente zu essen.«
»Da bin ich mir nicht sicher. Ich werde nachfragen.«
Sie lachte.
»Frag lieber morgen ...«
Héctors Entschluss, die Rechnung zu bezahlen, war unumstößlich gewesen, so dass Leire, die es drängte, den Gleichstand zwischen den Geschlechtern wiederherzustellen, ihm vorschlug, noch ein Glas in einer nahen Bar zu trinken, wo es »die besten Mojitos von Barcelona« gab. Das REC war ein kleines Lokal, ganz in Weiß, Grau und Rot, das im Winter, wenn die Gäste die gemütlicheren Innenräume den Straßenterrassen vorzogen, immer voll war. Jetzt standen nur ein paar Menschen an der Theke und unterhielten sich mit dem Wirt, einem kräftigen Kerl, der Leire mit zwei Küsschen begrüßte.
»Wie ich sehe, kennt man dich hier gut«, bemerkte Héctor, nachdem sie sich an einen Tisch gesetzt
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