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Der Sommer der toten Puppen

Der Sommer der toten Puppen

Titel: Der Sommer der toten Puppen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Hill
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Höflichkeit fragte er: »Natàlia ist schon im Bett?«
    »Ja ...« Sie trat an den Schreibtisch. »Sie hat auf dich gewartet, aber dann ist sie eingeschlafen.«
    Enric kannte den Unterton in ihrer Stimme. Er war so typisch für seine Frau, die sich niemals offen beschwerte. Normalerweise überhörte er diese Art Vorwurf, doch nachdem erzwei Stunden vor dem Bildschirm gesessen und Fotos seines toten Sohnes angesehen hatte, brach es aus ihm heraus.
    »Tut mir leid, wirklich. Aber heute Abend ist mir nicht nach Geschichtenerzählen zumute. Kannst du das verstehen?«
    Glòria wandte sich ab. Sie antwortete nicht. Auch das war typisch für sie: nur nicht streiten, nie mehr als ein leicht herablassender Blick.
    »Du verstehst es, ja?«, sagte er.
    »Ich wollte dich nur fragen, ob du zu Abend essen möchtest.«
    »Abendessen?« Die Frage schien ihm so trivial, so absurd hausfraulich, dass er fast lachen musste. »Nein. Sei unbesorgt. Ich habe keinen Hunger.«
    »Dann lass ich dich in Ruhe. Gute Nacht.«
    Glòria ging geräuschlos zur Tür. Manchmal kam es Enric vor, als wäre er mit einem Gespenst verheiratet, einem Wesen, das sich bewegte, ohne den Boden zu berühren. Tatsächlich glaubte er schon, seine Frau sei gegangen, als ihre gleichmütige Stimme, immer ein wenig tiefer als die normale Tonlage, zu ihm drang:
    »Marc ist tot, Enric, leider. Du kannst nichts mehr für ihn tun. Aber Natàlia lebt. Und sie braucht dich.«
    Sie wartete nicht darauf, dass er antwortete, und schloss leise die Tür. Und erneut erfasste ihn die Ohnmacht, kamen die beunruhigenden Fragen, die dieses Blog, von dem er bis zum Nachmittag nichts gewusst hatte, heraufbeschwor. Immerhin vermochte Glòrias kurzes und wohlbedachtes Erscheinen seine Last mit einem weiteren Stein zu beschweren. Einer weiteren Schuld. Denn wenn es jemanden gab auf der Welt, der ihn kannte, der in seinen Gedanken lesen konnte wie in einem Buch, dann Glòria. Und als hätte er es ausgesprochen, wusste seine Frau, dass er für dieses kleine Mädchen, das sie so vergötterte, nicht mehr empfinden konnte als Zuneigung – sosehr er es auch zu verbergen suchte, sosehr sie sich bemühte, es nicht wahrzuhaben, sooft Natàlia ihn Papi nannte und ihm die Arme um den Hals schlang. Er hatte nur ein Kind gehabt, und dieses Kind, sein Sohn, war tot; umgebracht, so viel schien sicher, von einem Mädchen, das seine beste Freundin gewesen war.
    Ein paar Sekunden später rief er, die Faust um den Hörer geklammert, die Kiefermuskeln gespannt, seinen Bruder an. Doch niemand antwortete.
    Fèlix schaute auf das Telefon. Es klingelte wie eine Forderung, hartnäckig und rücksichtslos wie die Person, die ihn anrief. Angesichts des Egoismus von Enric hatte er sich immer schon in Geduld geübt, doch heute war ihm ganz und gar nicht danach, abzuheben. Er wusste, was er ihn fragen wollte. Wer war diese Iris? Was hatte es mit dieser makabren Geschichte auf sich? Enric erinnerte sich an nichts, das war klar. Ein anderer Vater hätte sich erinnert, Enric nicht. Allenfalls wusste er vielleicht noch, dass in jenem Sommer das Ferienlager wegen eines Unfalls vorzeitig beendet wurde. Wobei er ihm, um der Wahrheit die Ehre zu geben, auch nicht allzu viel erzählt hatte. Dafür hatte er seinen Neffen sehr genau beobachtet, aber Marc hatte keine Albträume gehabt, es schien vielmehr, als habe er, nachdem er wieder zuhause war, zurück in seinem Alltag, Iris vergessen. Ja. Alle hatten so getan, als wollten sie Iris vergessen. Es war das Beste.
    Das Beste, ja, sagte er sich noch einmal, fast laut, fest davon überzeugt, dass er unter den gegebenen Umständen getan hatte, was er tun musste. Der armen Kleinen war nicht mehr zu helfen, sie war in den Händen des Herrn. Für die anderen aber, die noch lebten, für sie trug er die Verantwortung. Er musste entscheiden, und er hatte es getan. Den ganzen Tag schon sagte er es sich, doch als seine Augen dann das verschwommene Foto von Iris in dem Blog seines Neffen sahen, sprang alle Selbstgewissheit in Stücke. Denn er wusste, dass seine Überzeugung, in jenem Sommer das Richtige getan zu haben, vielleicht kein anderes Fundament hatte als den morastigen Grund der Lüge. Das kleine Gesicht von Iris erinnerte ihn in aller Deutlichkeit daran.
    Das Bild des blonden Mädchens vor sich, senkte Fèlix die Augen und bat um Vergebung. Für seine Sünden, für seine Arroganz, für seine Voreingenommenheit. Während er noch betete, erinnerte er sich, wie Joana ihm neulich sagte,

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