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Der Sommer der toten Puppen

Der Sommer der toten Puppen

Titel: Der Sommer der toten Puppen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Hill
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und sie seine Augen sah, glaubte sie, auf einen tiefen, dunklen Grund zu schauen, und sie spürte, was ihre Freundin María einmal »die verführerische Macht der traurigen Kindheit« genannt hatte. Eine Mischung aus Anziehung und Zärtlichkeit. Sie wandte den Blick ab, damit er es nicht merkte, und verfluchte ihre Hormone, die verrückt spielten und sich verschworen zu haben schienen, um sie zu manipulieren. Zum Glück nahmen in dem Moment ein paar späte Gäste am Nebentisch Platz, so dass jede weitere Vertraulichkeit schwierig gewesen wäre. Und alle beide, sie wie auch Héctor, versuchten erneut, eine zwanglose Unterhaltung in Gang zu setzen, doch ihre Bemühungen endeten in einem so steifen Gespräch, dass Leire sich freute, als er das Glas austrank und andeutete, sie sei vielleicht ebenfalls müde.
    »Ein bisschen, stimmt. Soll ich dich irgendwo hinbringen?«
    Er schüttelte den Kopf.
    »Wir sehen uns morgen.« Hoffe ich zumindest, dachte er. »Fahr vorsichtig.«
    »Ich habe nichts getrunken, Inspektor Salgado.«
    »Bin ich nicht mehr Héctor?«, fragte er mit einem leisen Lächeln.
    Leire sagte nichts. Sie ging zur Theke und bezahlte die Getränke, ohne etwas auf seinen Protest zu geben. Héctor beobachtete sie vom Tisch aus, während sie noch mit dem Wirt sprach. Als er sie lachen hörte, sagte er sich, dass ihm genau das seit einiger Zeit in seinem Leben fehlte. Nicht jemand zum Bumsen oder zum Spazierengehen oder zum Zusammenleben. Sondern jemand, mit dem er lachen konnte über dieses Scheißleben.
    Er blieb allein in der Bar, bis geschlossen wurde, wie ein Trinker aus der Nachbarschaft, der nicht nachhause will. Nur blieb die Wirkung der Mojitos an diesem Abend aus, und nicht ohne Selbstironie musste er daran denken, dass im Film die Helden Bourbon trinken oder Scotch. Nicht mal damit kannst du mithalten, Salgado. Als der Wirt ihn diskret auf die Uhrzeit hinwies, ging er hinaus. Er lief eine Weile ziellos umher, versuchte, nicht zu denken, die Erinnerung auszuschalten, aber es gelang ihm nicht. Als er gerade nach irgendeiner Kaschemme Ausschau hielt, um sich weiter abzufüllen, klingelte endlich sein Handy. Er antwortete sofort.
    »Martina!«
    »Héctor, alles klar. Alles klar! Es ist vorbei. Mensch, Inspektor, du schuldest mir was. Diesmal aber wirklich.«

36
    Kaum war Héctor gegangen, hatte Unterinspektorin Andreu die Wohnung, in der die Leiche von Omar lag, noch einmal betreten. Sie war nun gedanklich auf den Anblick vorbereitet, so dass sie sich am Tatort mit der gebotenen Nüchternheit umsehen konnte. Wenn der Mann zu Lebzeiten jemandem etwas getan hatte, sagte sie sich, als sie neben der Leiche kniete, hatte er es ganz offensichtlich mit einem langsamen Tod bezahlt. Wie ein Straßenköter. Sie war keine Gerichtsmedizinerin, kannte sich aber gut genug aus, um zu erkennen, dass der alte Doktor vor vierundzwanzig bis achtundvierzig Stunden gestorben sein musste. Die starke Prellung im Nacken war jedoch älter. Ja, man hatte dem Doktor Tage vorher einen fast tödlichen Schlag versetzt, am Tag seines Verschwindens, und dann hatte man ihn dort abgelegt. Gefesselt, geknebelt, sterbend. Zur sadistischen Krönung, sagte sie sich und dachte an die DVD, die sie in dem Player gefunden hatte, hatte sein Mörder den Moment, als er starb, für die Nachwelt festgehalten.
    Sie stand langsam wieder auf. Sosehr sie sich auch davor drücken wollte, alle Indizien deuteten auf Héctor. Eine Zeugin hatte ihn mit dem Opfer am Abend seines Verschwindens gesehen; ein Mann mit argentinischem Akzent hatte per Telefon den Schweinekopf bestellt und dann auch bezahlt. Natürlich hätte der Anruf von überallher kommen können, der Junge in der Metzgerei hatte keine sehr verlässliche Beschreibung gegeben, und abgesehen von dem Akzent hatte er nur vage Angaben gemacht. Aber so vage sie sein mochten, sie widersprachen keineswegs der Erscheinung von Héctor Salgado. Und dann die Leiche, genau unter Héctors Wohnung. Und die Videos bei ihm zuhause. Martina schloss die Augen und konnte einen Teil des Tathergangs vor sich sehen. Es kostete sie Überwindung, sich vorzustellen, wie Héctor in einem Akt krankhaften Voyeurismus den Tod von jemandem filmte, und erst recht, wie er die arme Nachbarin überfiel. Oder war der Überfall auf Carmen eine bloße Koinzidenz?
    Schluss jetzt, befahl sie sich. Dort gab es nichts mehr zu sehen. Sie verließ die Wohnung, wie sie sie vorgefunden hatte, und brachte Carmens Schlüssel zurück. Doch dann

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