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Der Sommer der toten Puppen

Der Sommer der toten Puppen

Titel: Der Sommer der toten Puppen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Hill
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befiel sie ein seltsames Unbehagen, ein unbestimmtes Gefühl, als hätte sie etwas übersehen. Vielleicht war es auch nur die Angst, jemand könnte entdecken, auf was sie sich eingelassen hatte: auf diese paar Extrastunden, die sie einem möglichen Mörder gewährt hatte ... Sie hatte etwas riskiert für ihn, dachte sie. Und ohne die geringste Garantie, das Spiel auch zu gewinnen.
    Noch einmal in die Praxis von Omar zu gehen kam nicht in Frage, und so machte sie sich auf ins Kommissariat, wo sie sich mit allen Unterlagen einschließen und nach einem losen Faden suchen wollte, einem Faden, an dem sie ziehen konnte. Sie sah auf die Uhr. Eine lange, vielleicht vergebliche Nacht erwartete sie, aber sie war nicht bereit, das Handtuch zu werfen. Noch nicht.
    Zwei Stunden später jedoch, mit steifem Nacken, die Augen gerötet, wurde das Gefühl der Niederlage übermächtig. Sie hatte alle Berichte noch einmal durchgelesen, sowohl die von vor dem Verschwinden des Doktors, als wegen einer möglichen Verbindung zu diesem Zuhälterring gegen ihn ermittelt wurde, als auch die jüngsten. Nach einem detaillierten Schema hatte sie die Aussagen der Zeugen gesichtet: die des Anwalts, der behauptete, ihn am Montagabend gesehen zu haben, die des Metzgers und vor allem die von Rosa, wonach der Doktor am Dienstagnachmittag in seiner Praxis gewesen war. Sie hatte sich alle möglichen Fragen gestellt, und auch wenn sie nicht immer eine Antwort fand, lenkten sie ihre Gedanken doch alle auf einen einzigen Namen: Héctor Salgado.
    Zum letzten Mal ging sie die offenen Fragen durch. Wie hatte Héctor Omars Leiche in die leere Wohnung in Poblenou geschafft? Er konnte sich von einem Freund ein Auto geliehen haben, sagte sie sich. Oder von seiner ehemaligen Frau. Mehr noch, dachte sie, er konnte sogar eins der Fahrzeuge der Polizei genommen haben, was nicht einfach war, aber zu bewerkstelligen. Ein weiterer Punkt gegen den Inspektor.
    Sie war völlig erledigt. Der Rücken tat weh, der Kopf, der Magen. Selbst die schlechte Laune schmerzte. Doch ebendiese Erschöpfung zwang sie auch, mit einer fast masochistischen Beharrlichkeit weiterzumachen. Sie schloss kurz die Augen, atmete tief durch und stürzte sich wieder hinein, von Anfang an. Eine Frage stand im Raum, seit sie die Wohnung des Doktors durchsucht und sein Bankkonto überprüft hatten. Angenommen, und sie bezweifelte es nicht, dass dieser Quacksalber mit den Frauenhändlern zusammengearbeitet hatte – wo war dann das Geld, das er damit verdiente? Nicht auf der Bank, logisch, aber auch nicht bei ihm zuhause. Die Frage blieb unbeantwortet, entlastete Héctor aber nicht. Sein Motiv wäre nie und nimmer Raub gewesen, sondern Rache. Ein fehlgeleiteter Sinn für Gerechtigkeit. Derselbe, der ihn getrieben hatte, den Mann zu verprügeln.
    »Schluss jetzt«, sagte sie laut. Mehr war nicht drin. Sie hatte alles gegeben. Vielleicht wäre es das Beste, den Leichenfund zu melden, mit allen Konsequenzen, und die Ermittlungen gegen Héctor offiziell einzuleiten. Sie hatte getan, was sie konnte ... Sie nahm sich ein paar Minuten Zeit, bevor sie den Anruf machte, der das ganze Verfahren in Gang setzte, und überlegte sich schon, wie sie ihr nicht gerade professionelles Handeln rechtfertigen sollte. Sie schob die Akte Omar beiseite, und während sie noch über ihre eigene Situation nachdachte, schlug sie die Mappe mit den Unterlagen der misshandelten Frauen auf, die sich für den Selbstverteidigungskurs angemeldet hatten, den sie im Herbst wieder geben sollte. Wenn man sie nicht für Alkoholkontrollen abstellte, sobald das Ganze aufflog, dachte sie. Sie blätterte die Seiten durch, sah sich Fotos an. Nicht allen konnte zugesagt werden, leider, auch wenn sie sich bemühte, so viele wie möglich anzunehmen. Am Ende fehlten im Kurs immer ein paar, sei es, weil sie sich nicht in der Lage sahen, sei es, weil sie sich damit abgefunden hatten, diese Scheißkerle weiter zu ertragen. Arme Frauen, dachte sie. Wer nichts mit ihnen zu tun hatte, konnte sich nicht vorstellen, welchem Terror sie ausgesetzt waren. Sie waren jeden Alters, aus den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Schichten und Ländern, aber allen gemeinsam war die Angst, die Scham, das Misstrauen ... Bei einem Foto hielt sie inne, sie hatte die Frau sofort erkannt. Es war Rosa, kein Zweifel. María del Rosario Álvarez, so die Akte. Es verwunderte sie nicht, dass sie dabei war, sie hatte von einem Ehemann gesprochen, den sie fürchtete. Sie erinnerte

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