Der Sommer der Toten
»Doppelvisionen«, erzählt, die sie gehabt hatte. Jenes Aufblitzen von Bergwiese, Dorf und schneebedeckter Bergkette im Hintergrund. »Wie ein Bild aus einem Buch. Beide Male war es … beide Male war es wie aufgepfropft auf das, was ich tatsächlich sah. Und es war ganz schnell wieder verschwunden.«
»Machen wir einen Versuch«, schlug David vor. »Beschreibe das Bild deiner Mutter.«
Katie befolgte seinen Rat.
»Erkennst du es?« fragte David die Gelähmte. »Bedeutet es für dich etwas?«
Mamas Augen verdunkelten sich in einem in die Ferne gerichteten Blick.
Sie blinzelte einmal, ganz betrübt.
»Du kennst es?«
Ja.
Was nun?
David hatte eine Idee. »Katie, es wird dir nicht behagen, aber ich muß es früher oder später herausbekommen. Mama«, fragte er und sah Katrin in die Augen, »hast du Angst vor deinem Mann?«
»David!« rief Katie erschrocken und verwundert aus. Aber sie mußte sich eingestehen, daß diese Frage, mochte sie auch unangenehm sein, ihr auch schon in den Sinn gekommen war.
Tränen stiegen Mama in die Augen, und sie blinzelte.
Katie wollte es nicht glauben. Sie fühlte sich schuldig und warf einen Blick aus dem Fenster. Ihr Vater stand auf einer Leiter neben dem Getreidespeicher und besserte das Dach aus. Sie sah zurück zum Bett. War es möglich, daß Bates recht hatte? Daß Mamas Verstand seit dem Schlaganfall nicht mehr normal funktionierte? Sie konnte sich nicht vorstellen, daß ihr Vater Mama etwas Böses zufügen wollte. Sie sah keinen Grund dafür. Oder gab es doch einen? Schließlich hatte Mama mit Ja geantwortet.
»Das dachte ich mir«, sagte David leise und sah Katie an.
»Wir wissen nicht …«, setzte Katie an.
»Jetzt hör zu. Wir machen weiter, ja?« fragte er Mama. »Und warum hast du Angst?«
Mama ließ die Lider flattern, gefangen in ihrer Wortlosigkeit. Dann ließ sie den Blick über die Zimmerdecke wandern, von einer Ecke zur anderen. Wie damals am Abend ihrer Ankunft, und auch nachher, diesmal aber gefaßter und maßvoller.
Sie hielt inne und sah die beiden hoffnungsvoll an.
Und sie begriffen nicht.
»Es muß mit der Decke zu tun haben«, sagte David und setzte sich. »Und mit dem Fotoalbum oder mit einem Bild darin. Hat es damit zu tun, Mama?«
Ja.
»Und mit den Bergen, die Katie sah?«
Diesmal drückte Mamas Blick Zweifel aus, aber dann blinzelte sie. Ja.
»Wußte Aggie Jensen, was da vorgeht?« fragte David weiter.
Mama zwinkerte.
Achtung. Reg sie nicht auf, mahnte Katie David mit einem Blick. Mama wußte ja nicht, was Aggie zugestoßen war.
»So, so …« David dachte nach. Aggie hatte etwas gewußt, und jetzt war Aggie nicht mehr da. Was immer es war, es schien dabei allerhand auf dem Spiel zu stehen. Möglicherweise war es sogar jemand einen Mord wert.
Er holte das Album aus der Schublade und blätterte es von neuem durch. Aber wieder reagierte Mama einzig und allein auf ihr eigenes Bild, das, auf dem sie bereits weiße Haare hatte. Mamas Blick wechselte zwischen dem Bild und Katie hin und her.
Aber Katie konnte in dem Bild keinen Sinn entdecken.
»Und wie steht es mit diesem sonderbaren schleifenden Geräusch?« fragte Kate. »Ich habe es in der ersten Nacht gehört. Hat es eine Bedeutung?«
Mit der Erwähnung und gleichzeitigen Erinnerung an das Geräusch blitzte bei Katie auch eine andere Erinnerung auf. An etwas Entsetzliches, das sich schnell bewegte, das schrie. Doch verschwand diese Erinnerung wieder im Unterbewußtsein, bevor sie sie richtig zu fassen bekam.
Mama schien nachzudenken. Schließlich blinzelte sie einmal zögernd.
»Du sagtest, dein Vater hätte die Heizungsröhren gereinigt«, warf David ein. »Stimmt das?«
»Er behauptet es -«
Mama machte ein verwirrtes Gesicht.
»Sie schlief, als es passierte«, erklärte Katie.
Sie kamen nicht weiter, und Mama war sichtlich müde.
»Ich mache dir etwas zu essen, ehe du einschläfst«, sagte Katie. Sie vergewisserten sich, daß sie bequem lag, und gingen in die Küche.
»Man kann nicht leugnen, daß sich hier etwas tut«, sagte David. »Etwas sehr Undurchsichtiges.«
Katie nickte. Sie holte eine Suppenkonserve, Milch und Brot aus dem Schrank. David lief in Gedanken versunken auf und ab.
»Aber wir kennen die Fragen nicht, die wir ihr stellen müßten. Wir wissen zu wenig.«
»Mit Ja und Nein kommt man nicht weit.«
»Es würde reichen. Wenn wir nur wüßten, was wir sie fragen sollen.«
»Wir wissen es nicht.«
»Noch nicht jedenfalls. Ich bin aber sicher, daß
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