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Der Sommer der Toten

Der Sommer der Toten

Titel: Der Sommer der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael T. Hinkemeyer
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zwischen den beiden.
    »Tochter der Erde!« sprach der Geistliche plötzlich. Seine Stimme war leise, aber befehlend, tief und kräftig.
    »Tochter der Erde!« wiederholte er und machte das Kreuzeszeichen. »Deine Seele! Deine Seele wird erlöst, und dein Leib ein Grab der Jugend!«
    Während er das sagte, schien es im Raum dunkler zu werden. Oder war es nur der merkwürdige Klang der merkwürdigen Worte? Nicht einmal in seinen wildesten, wortreichsten Predigten hatte Reverend Mauslocher so gesprochen. Im Raum vibrierten physikalische Energien, aber es blieb still. Katie spürte, wie sich ihr die Haare sträubten. Gleichzeitig spürte sie wie mit einem plötzlichen Schaudern, daß David seinen Arm um sie gelegt hatte.
    »Die große hohe Zeit wird kommen«, versprach Mauslocher, »und mit ihr die Erneuerung all dessen, das uns teuer ist.«
    Er beugte sich über Mama und berührte ihre Füße durch die Decke.
    »Hinweg!« befahl er. Das war ein plötzlicher Ausruf, der durch das Haus hallte. »Entweiche und mache den Weg frei!«
    »Entweiche und mache den Weg frei«, wiederholte Papa leise und inbrünstig. »Entweiche und mache …«
    »Es geschehe«, schloß der Priester, nun ganz leise. »Es geschehe zu der Heiligen Zeit.«
    Mamas Blick wurde sanft und verschwommen. Verblaßte. Die Spannung war nicht mehr spürbar. Sie schloß die Augen.
    »Zu der Heiligen Zeit«, flüsterte Papa.
    »Schlaf«, sagte der Pfarrer nun beruhigend. »Du sollst nicht darniederliegen inmitten von Kerzen.«
    Er ging um das Bett herum und berührte Mamas Lider mit den Fingerspitzen, so als schließe er die Augen einer Toten.
    Katie drückte sich enger an David. Sie hatte das Gefühl, sie wären Zeugen eines uralten Rituals geworden, einer sonderbaren Zeremonie, dunkel und obszön zugleich.
    »Schlafe«, flüsterte der Geistliche mit den Lippen an Mamas Ohr. »Schlafe und mache den Weg frei.«
    Dann richtete er sich auf, Papa tat es ihm gleich. Die zwei gingen hinaus und ignorierten Katie und David nicht einmal. Sie waren sich ihrer Gegenwart gar nicht bewußt, wie sie da, umschlossen von einer fremden, nur ihnen verständlichen Wirklichkeit, hinausgingen. Ohne ein Wort zu äußern verließen sie das Haus. Mauslocher bestieg seinen Cadillac und fuhr los. Er ließ Papa, der seinen Arm zu einem bewegenden formellen Abschied erhoben hatte, einfach stehen.
    »David!« rief Katie und klammerte sich an ihn. »Mein Gott, was ist bloß …«
    Sie spürte sein Zittern, aber er antwortete mit fester Stimme: »Wenn ich das bloß wüßte, Katie. Aber ich werde dahinterkommen, das steht fest!«

 
Samstagnachmittag
     
     
I
     
    Otto Ronsky begutachtete den roten Mustang, schätzte Preis und Leistung ab, ließ einen braunen Tabaksaftstrahl aus einer Zahnlücke schießen und zog die Schultern hoch.
    »Toller Wagen«, sagte er schließlich.
    Sie standen auf Otto Ronskys Hof. David lehnte am Kotflügel. Katie sah aus dem Wagen heraus zu. Ein paar Nachbarinnen waren zu den Jaspers gekommen, um bei Mama zu sitzen und dabei zu stricken und zu klatschen. Papa hatte die Reparatur am Getreidespeicher beendet und war nun dabei, die losen Brückenbohlen auszubessern.
    »Er läuft ganz gut«, meinte David. »Was ist mit Butch?«
    »Aber ein Traktor ist er nicht«, äußerte Otto gedehnt und vermied es, über seinen Sohn zu sprechen. »Nehmen Sie meinen Traktor, einen John Deere. Jede Wette, daß er mich weniger kostet und …«
    »Butch braucht einen Verteidiger, gleichgültig, wie sich die Sache entwickelt. So will es das Gesetz.«
    Otto ließ den Traktor fallen und neigte listig den Kopf. Hinter dem hufeisenförmigen Scheunendach ragten drei große weiße Silos auf. Die größten in der ganzen Umgebung. Wieder spuckte er aus. Er beugte sich ein wenig vor und rührte mit der Stiefelspitze in dem staubigen Tabaksaftfleck.
    »Nun ja, Otto, vielleicht …«, setzte seine Frau neben ihm schüchtern an. Die kräftige Frau mit dem blassen Mausgesicht steckte in Overalls, einer sehr praktischen Kluft in einer Gegend, wo Frauen oft bei der Stallarbeit zupacken mußten.
    »Halt die Klappe«, wies Otto sie zurecht. Ganz ruhig. Er sagte es im Gesprächston. Und sie hielt die Klappe. Otto hätte ihr andernfalls einen Tritt in den Hintern versetzt, das wußte sie aus Erfahrung.
    »Sie wollen also … wie heißt es so schön in der Juristensprache – ›seinen Fall übernehmen‹?«
    »Ich möchte ihm helfen. Und ich möchte herausbekommen, was, zum Henker, hier

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