Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Sommer der Toten

Der Sommer der Toten

Titel: Der Sommer der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael T. Hinkemeyer
Vom Netzwerk:
erfüllte sie mit plötzlicher Trauer. Sie dachte an Butch Ronsky, den armen Schwachsinnigen, in seinem Käfig, als sie aus dem Augenwinkel wahrnahm, daß jemand zu Fuß daherkam … ein Mann … es mußte ein Mann sein. Er bog von der Hauptstraße ab und kam den Zufahrtsweg entlang.
    Aus irgendeinem unbekannten Grund erstarrte Katie am Fenster und beobachtete sein Näherkommen. Es schien ewig zu dauern – er ging wie in einer Tretmühle oder im Traum, bewegte Arme und Beine, kam aber nicht weiter, legte keinen Meter zurück – und doch war es, als stünde er in Sekundenbruchteilen direkt vor dem Haus und stieg die Treppe zur Veranda hinauf. Ein junger Mann, dunkel gekleidet. Die Hutkrempe beschattete sein Gesicht, so daß Katie es nicht sehen konnte. Seltsam. So früh am Sonntagmorgen. War ihm das Benzin ausgegangen oder … Sie trat hinaus auf die Veranda. Er stand am Fuße der Treppe.
    »Hörte, daß Sie eine Hilfskraft brauchen«, sagte er rundheraus, sicher, und hob das Kinn, so daß der Schatten von seinem Gesicht wich und sein Mund sichtbar wurde – ein harter, verkniffener Mund, und das bei einem so jungen Menschen – und sein lückenhaftes gelbes Gebiß.
    Verlegen und fast furchtsam sagte Katie: »Da müssen Sie mit Papa reden …« Und sie drehte sich um und deutete an, daß ihr Vater im Haus wäre und sah wieder hin zu dem Mann und sah – nur Old Robert! Der jagte von der Scheune her über den Hof, wie ein junger Hund, tolpatschig, schweifwedelnd. Die feuchte Zunge hing ihm seitlich aus dem Maul. Vor Freude jaulend sprang er hoch und bettelte.
    Verwirrt, ja benommen holte sie dem Hund ein paar Überbleibsel vom letzten Abendbrot und ging dann zurück ins Haus.
    Und dann war Mama erwacht, mußte gefüttert und gewaschen werden. Dann das Frühstück für Papa und David. Umziehen für die Kirche, Anweisungen für David, der bei Mama bleiben sollte, die Fahrt ins Dorf.
    »Reverend Mauslocher ist ein großer Mann«, sagte Papa.
    »Mir flößt er Angst ein. Ein wenig.«
    »Verstehe ich. So soll es auch sein.«
    »Warum macht er nicht alles so wie es sich gehört?«
    »Wie es sich gehört?«
    »Seine Gebete. Die Liturgie. Alles übliche. Er ist so … immer anders. So gar nicht wie die Pfarrer anderer Gemeinden.«
    »Katie, Katie«, sagte ihr Vater.
    Wenn David nicht dabei war, dann war Papa so gelockert und gelassen wie immer, wie früher.
    »Du darfst nicht vergessen, daß das hier seine Gemeinde ist. Er ist schon so lange hier. Wir alle sind schon lange hier. Wir haben unseren eigenen Lebensinhalt. Land. Ernte. Ein Gefühl für die Zeit, für die Jahreszeiten …«
    Für Papa war das fast Poesie, dennoch klang es hölzern und beinahe absurd in seiner groben ländlichen Sprechweise. Er wiederholte bloß, was Reverend Mauslocher hundertmal gesagt hatte. Ein Beweis, wie Mauslocher sie alle in der Hand hatte. Er formte die Gedanken für sie aus und ließ diese Gedanken dauernd in ihren Köpfen rotieren, bis sie schließlich so mächtig und sinnentleert wurden wie das Leiern von Gebetsmühlen. »Ich verstehe«, sagte sie, obwohl sie überhaupt nichts verstand.
     
    Die Kirche selbst war grotesk. Nicht von außen, nein, da war sie so schlicht wie ein Backsteinbau nur sein konnte. Außergewöhnlich war nur der besonders hohe Turm mit dem Kreuz auf der Spitze. Aber das Innere! War es denn immer schon so gewesen? Hatte sie nur alles vergessen?
    Der Altar schien aus Holz, aber mit einem verbogenen, verzerrten Schnitzwerk, zu seltsamen fratzenhaften Gebilden verformt, reihenweise übereinander, bis zu der gewölbten Decke aufragend. Und an der Decke über dem Altar ein riesiges Auge, der Augapfel – zwölf Fuß oder mehr im Durchmesser. »Das Auge Gottes«, sagten die Leute mit ernstem Nicken. Das seltsam geformte Holz des Altars bildete Höhlungen, grottengleich, in die man Figuren gestellt hatte, grimassenschneidende Figuren. Gestalten gefolterter Heiliger und Märtyrer mit schmerzverzerrten Mienen. Andere Statuen, größere, waren an den Seitenwänden der Kirche aufgestellt, und sogar die bunten Glasfenster stellten Männer und Frauen dar, die Qualen litten: erschlagen, gepeitscht, gesteinigt, durchstoßen, erschossen. Und schließlich Johannes den Täufer, enthauptet. Der Kopf lag auf einem Tablett.
    Die größten Statuen, jeweils zu beiden Seiten des Altars, waren die der Hauptheiligen, Figuren von Christus, der Jungfrau …
    Katie stutzte und sah noch einmal hin.
    Die alte Muttergottesstatue, an die sie sich

Weitere Kostenlose Bücher