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Der Sommer der Toten

Der Sommer der Toten

Titel: Der Sommer der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael T. Hinkemeyer
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erinnern konnte, war verschwunden.
    An ihrer Stelle stand eine ähnliche Statue, jedoch viel derber und seltsam bezwingend: eine junge Frau mit erhobenen Armen, schwere Ährengarben haltend. Ihr Leib wuchs aus einem Gebilde, das aussah wie eine Ackerfurche, wie ein Riß im Erdreich. Diese Frauengestalt hatte sie schon anderswo gesehen: eingraviert auf den großen Kerzen in der Sommerküche.
    »Warum das?« flüsterte sie.
    »Wir sind eine ländliche Pfarre«, antwortete ihr Vater mit Nachdruck. »Der Reverend dachte, es würde gut herpassen.«
    »Aber wen stellt die Figur dar?«
    »St. Alazara.«
    »Aber es gibt keine heilige Alazara. Jedermann weiß, daß sich diesen Namen die Pioniere damals ausdachten.«
    »Genug jetzt«, flüsterte er heiser. »Still.«
    Wieder dieser Mauslocher, dachte sie. Seine blühende Phantasie. Er war vor Jahren auf die Ursprünge des Namens gestoßen und hatte sie mit seinen erdverzückten Schwärmereien verquickt, mit dem Sonnwendfest und diesem eigenartigen Erdkult: Aten, der alte ägyptische Sonnengott, und Alazar, seine Gemahlin, die Schützer des Lebens und Lichtes, waren später »christianisiert« worden, den Heiden geraubt, und gegen sie verwandt, bis sie sich bekehrten oder unterwarfen. War dieses Dorf, die ganze Gemeinde, von ihren Anfängen her etwas Merkwürdiges? Die anderen Dörfer des Distriktes, St. Stephen, St. Augusta, St. Anna und alle übrigen, waren, oberflächlich betrachtet, so wie dieses hier. Aber nur hier traten die Spur einer fremden Überlieferung auf: etwas Lauerndes, Schreckliches, etwas nie Preisgegebenes. Eine außergewöhnliche ekstatische Erregung, ein schlummernder Glaube, der nie offen ausgesprochen wurde, wie ein geheimes Sehnen …
    Draußen im Vestibül schnaubte Christ Gorman verächtlich, und alles drehte sich um und sah zu, wie Hercules Rasmussen, geduckt und gleichsam um Entschuldigung heischend, hereinkam und in der hintersten Reihe Platz nahm. Nach dem Gottesdienst mußte er schleunigst hinaus und den Laden aufsperren. Sicher würden einige Kirchgänger noch dies oder jenes besorgen wollen. Katie hielt seinen Blick fest. Er schien erstaunt, sie hier zu sehen, und ein eindringlicher, ängstlicher Ausdruck huschte über sein Gesicht, als hätte er etwas zu sagen. Aber wie gewöhnlich wandte er den Blick ab und zog den Kopf ein.
    Jetzt waren alle vollzählig. Mit dem Flüstern, Scharren, Hälseverrenken war nun Schluß. Gedämpfte Erwartung machte sich breit, steigerte sich und wurde gebrochen und ihrer Spannung beraubt, als das Altarglöckchen erklang. Reverend Mauslocher in prächtigen altertümlichen Gewändern – Purpur, Silber und Gold – einen goldenen Kelch vor sich hertragend, schwebte an den Altar. Die Gemeinde erhob sich – wobei die Betagten mit Schwierigkeiten zu kämpfen hatten. Wie ein Windstoß, wie ein Strom der Energie und des Glaubens ging etwas von den Menschen aus.
    Alle Augen ruhten unverwandt auf dem Priester. Die Alten schienen nach ihm die Arme auszustrecken, ihn zu fassen, als wollten sie an seiner Kraft und seiner heiligen Gewißheit Anteil haben.
    Und er gab ihnen ihren Anteil.
    Er rezitierte feststehende Formeln und intonierte die üblichen Gebete, unterbrochen vom krächzenden Gesang des altersschwachen Chores und dem scheppernden, dröhnenden Brausen der alten Pedalorgel.
    Dann betrat der Priester die Kanzel, und die eindringliche Aufmerksamkeit der Andächtigen wuchs und verdoppelte sich. Sie beugten sich vor, boten sich ihm dar, und er beugte sich, die Arme ausgebreitet, ebenfalls vor. Gleichgesinnte Geister trafen in der weihrauchgeschwängerten Luft aufeinander, verschmolzen miteinander, und die vom Wahnsinn gezeichneten Statuen gaben ihren Segen dazu. Katie hatte das flüchtige, aber doch bestimmte Gefühl einer verborgenen Einheit dieser Menschen, und wenn sie in einem grauenvollen Wahn lag, der wie ein Strom gemeinsamen Blutes durch die Gemeinde pulsierte.
    Als erstes kam eine Ankündigung. Ganz leise.
    »Agnes Jensen wird morgen in der Früh zu Grabe getragen.« Pause. »Der Herr gebe ihr ewigen Frieden.«
    »Amen« antworteten die Gläubigen.
    »Wer ihr die letzte Ehre erweisen möchte, kann dies in Pelsers Aufbahrungshalle heute tun.«
    Ein allgemeines Kopfnicken. Ein Zur-Kenntnis-Nehmen, matt und neutral, mehr nicht.
    »Der Herr erlöse uns.«
    »Der Herr erlöse uns«, erklang die Wiederholung.
    »Amen«, antwortete der Priester.
    Dann ließ er eine Pause eintreten. Sein Blick glitt langsam über die

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