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Der Sommer der Toten

Der Sommer der Toten

Titel: Der Sommer der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael T. Hinkemeyer
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starrten gläubig empor. Die alten verwüsteten Gesichter, ihre unerfüllten Träume, ihre gebrochenen Leiber: das alles wurde im Licht der Worte verwandelt, verändert, verklärt.
    Sie spürte in Armen und Beinen ein Zittern, dessen sie nicht Herr werden konnte. Ihre Finger zuckten. So ratlos und verängstigt war sie noch nie im Leben.
    Da legte ihr Vater seine große rauhe Pranke auf ihre Hand. Sie spürte, daß alle Anwesenden es sahen.
    »Alles wird gut«, flüsterte er. »Wir lieben einander, und alles wird gut werden.«

 
II
     
     
    Nach dem Gottesdienst wiederholte Mauslocher, was die meisten seiner Schäfchen bereits wußten. »Dienstag haben wir hier im Dorf eine kleine Zusammenkunft, eine kleine Gedächtnisfeier, oder vielleicht mehr, wenn alles klappt. Die Witwe Sitta war so liebenswürdig, die Organisation zu übernehmen – wer welche Leckerbissen spendet und dergleichen. Sollte jemand noch keine Anweisungen erhalten haben, möge er sich mit ihr in Verbindung setzen.«
    In ihrem Sitz plusterte Mrs. Sitta sich auf.
    »Und natürlich wird Hercules Rasmussen etliche Kasten Bier stiften, wie es seine Mutter immer getan hat, nicht?«
    Der arme Hercules, den diese Aufforderung überrumpelte, als er eben auf Zehenspitzen aus der Kirche schleichen und zu seinem Laden rüberlaufen wollte, hielt mitten im Schritt inne, lächerlich auf den Zehenspitzen balancierend, die Arme nach beiden Seiten ausgestreckt.
    Die Gemeinde reagierte mit schadenfrohem Lächeln.
    Der schmächtige Ladenbesitzer nickte, hochrot geworden, unfähig, auch nur ein Wort herauszubringen.
    »Sollte aus irgendeinem Grund«, schloß der Priester, »beispielsweise Wetterungunst oder eine Änderung der Pläne, eine Zusammenkunft am Dienstag unmöglich sein, dann holen wir die Feier am nächstmöglichen Tag nach.«
    Die Leute nickten und nickten.
    Draußen vor der Kirche kam Doc Bates auf Papa zu und begrüßte ihn.
    »Gehst du rüber in die Leichenhalle?«
    »Das sind wir ihr wohl schuldig«, sagte Papa.
    »Es mußte wohl so sein«, warf Doc ein und bohrte mit der Schuhspitze in der Erde. »Ich schätze, der Reverend hat recht, wenn er von einem Plan spricht.«
    »Wunderbare Predigt.«
    »Hat uns damit alle zusammengebracht. Meinst du nicht auch, Katie?« Der Arzt sah Katie mit freundlichem Blick an, und sie merkte erleichtert, daß es diesmal ohne schmutzige Bemerkungen abgehen würde. Obwohl Mauslochers antiquierte Metaphern dazu ja geradezu herausforderten.
    »Ich … leider habe ich nicht alles verstanden.«
    Der Arzt lachte. Und auch Papa konnte sich ein Lächeln nicht verbeißen.
    »Ach, das kommt schon noch, wenn du länger hier bleibst«, meinte Bates. »Du weißt doch, wie der Reverend ist.«
    »Da bin ich nicht sicher. Das heißt, ich …«
    »Du weißt doch, daß er für seine Schäfchen tut, was er kann. Daß er sie glücklich machen will. Daß er ihre Interessen wahrt. Er würde für die Gemeinde das letzte Hemd hergeben. Nicht viele Priester würden das tun.«
    »Und was redet er für Zeug … Land und Zeit und dergleichen? Und wer ist diese ›Sie‹, von der er dauernd redet?«
    Papa sah weg, nicht ganz unbefangen, und der Arzt hielt nur mit Mühe ihrem Blick stand.
    »Das ist so sein schmückendes Beiwerk«, sagte er schließlich. »Mir ist jedenfalls nichts aufgefallen. Meine Aufmerksamkeit läßt wohl nach. Wie steht es mit dir, Ben?«
    »Kann mich nicht erinnern. Mauslocher hat bei seinen Predigten nie mit Worten gespart.«
    Aber es war anders gewesen als sonst. Katie war wie vor den Kopf geschlagen. Diese alten wäßrigen Blicke, die auf ihr ruhten – in der Hoffnung, ja, worauf eigentlich? – Sie sah nach oben, zur Kirchturmspitze empor. Und sie brauchte mehrere Sekunden, ehe ihre Augen wirklich aufnahmen, was sie sahen. Man hatte die Spitze ausgewechselt. Das alte Kreuz war entfernt worden. An seiner Stelle stand eine vergoldete Frauengestalt, in den Händen Garbenbündel in Kreuzform haltend.

 
III
     
     
    Dolph Pelser stand neben dem offenen Sarg und erläuterte die Feinheiten seines Handwerks.
    »Wirklich, eine der schwierigsten Aufgaben, die ich je hatte«, erklärte er stolzgeschwellt. »Seht ihr diese Linie am Backenknochen? Ja, ich weiß, kaum sichtbar, so gut habe ich sie mit Salben und Rouge zugepflastert. Aber von hier …«, er deutete auf die Stelle, »… bis über den ganzen Hinterkopf war alles eingedrückt. Menschenskind. Butch Ronsky hat ihr mit dem Holzscheit den halben Schädel

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