Der Sommer der Toten
Andächtigen dahin, jeden einzelnen sah er an – ein langer, nervtötender Blick fiel auf Katie, als hieße er sie zu alldem willkommen – dann nickte er bedeutungsvoll. Es fehlte nicht viel, und er hätte gelächelt.
»Liebe Gemeinde«, sagte er plötzlich mit tiefer, aber gedämpfter Stimme. »Wir stehen knapp vor unserem Ziel.«
Was für ein Ziel das war, sagte er nicht, aber die Leute sahen einander lächelnd an und wußten offenbar Bescheid.
»Ein langer und mühseliger Weg war es bis zu diesem Augenblick, aber die Hohe Zeit steht unmittelbar bevor, ist uns fast sicher und …« Jetzt hob er die Stimme und schwang die Faust, »… wir haben es gemeinsam geschafft!«
Ein dünnes Gemurmel erhob sich in der Kirche, ein Geräusch, das Stolz und Hoffnung ausdrückte.
»Wir haben ihren Geist in uns aufgenommen, und nun bewegt sie sich im Gleichklang mit unserem Anliegen und unserer Sehnsucht. Sie ist in Bewegung – sie geht auf die Dunkelheit zu, damit wir dereinst das Licht erneut schauen mögen.«
Sie? Die Statue der Frau mit den Weizengarben?
Fast hätte Katie gelächelt, trotz der Unwirklichkeit der Situation. Reverend Mauslocher hatte wohl längst die Grenze kirchlicher Frömmigkeit überschritten und sich eine eigene Religion geschaffen. Was wohl seine geistlichen Vorgesetzten dazu sagen mochten? dachte sie, als sie plötzlich wieder das Gefühl bekam, die Zeit hätte aufgehört, oder mache zumindest eine kleine Pause.
Schweigend stand der Priester auf der Kanzel und sah über die Gemeinde hinweg. Die Leute verharrten in Totenstille. Und sie konnte sich nun vorstellen, wie sie alle einst gewesen sein mochten: jung und stark und hoffnungsvoll, munter und lebensvoll. Die Hängebacken des Geistlichen waren verschwunden. Sein Haar war dunkel und dicht. Und Papas Haar so wie damals, dunkel, hausgemachter Schnitt, doch sie wandte sich um, und da war Papa, mit der Narbe auf der Wange, ein Mann von sechzig Jahren, kraftvoll zwar, aber immerhin sechzig.
Von der Kanzel ertönte es: »Ihre Seele werde zur Rettung und ihr Leib werde Grab und Pforte in die Jugend.«
Er starrte sie alle mit großen wilden Augen an.
»Es ist die Zeit des Wachsens und Reifens. Die Sonne steht heiß und lebensvoll am Himmel. Und sie bereitet uns den Weg bei IHR und bittet für uns.«
Hatte er nicht bei Mama ähnliches Zeug verkündet? Die Phrase vom »Weg zur Jugend«? Katies Kopf fühlte sich ganz leicht, blutverdünnt, und in ihrem Magen regte sich Übelkeit. Das lange Eingesperrtsein in diesem traurigen, dem Tod geweihten Dorf. Die langen harten Winter, die enttäuschten Hoffnungen. Die düstere Einsamkeit des Nordlandes. Diese Menschen hier gaben sich Träumen hin! Sie waren irrsinnig! Total überspannt! Es war, als hätte Mauslocher nur ein einziges Gebet, eine Anhäufung sinnloser Phrasen auf Lager.
Dennoch …
Dennoch: »SIE«. »IHR«. Wer? Wenn es nicht die Weizengarbenfrau war, dann … Mama? Was hatte Mama mit all dem zu schaffen? Mama war – noch immer? – ein Gemeindemitglied, aber Gruft und Pforte zur Jugend …!
Sie holte tief Luft, um den Kopf klar zu bekommen. Sie nickte.
Als sie sich mit einem Blick umsah, bemerkte sie, daß alle noch immer auf den Priester blickten. Mit Ausnahme von Hercules Rasmussen, der sie mit hilfloser Eindringlichkeit ansah.
»Alljährlich«, fuhr der Priester fort, »alljährlich erneuert sich die Erde. Sie weiß es. Ist die richtige Zeit gekommen, dann kommt auch die Erneuerung. Wir, die wir uns selbst, unser Leben dem Land gegeben, wissen es sehr wohl. Denn es steht geschrieben, daß ein jedes Ding seine Zeit hat. Jeder von euch. Ich. Es ist Gottes Wille, daß wir geboren wurden, aufwuchsen, dem Land in Heiliger Zeit dienten. Um uns mit dem Land zu vereinen, wie Mann und Frau sich vereinen. Dem Gebote folgend, wollen wir unsere erste Liebe wie ein Geliebter umfangen, und den Samen dessen, was wir zutiefst lieben, legen in den Schoß ihrer Freuden und Sehnsüchte …«
Wieder setzte das langsame Summen ein, ein Wirrwarr von Gefühl, Verlangen aus den Kehlen der Menschen.
»… und ihrer Zeit!« donnerte der Priester los und ließ die Faust niedersausen. Das Summgeräusch verstummte jäh. Er benutzte die Versammlung der Gläubigen wie ein Instrument.
»Die Erde umfängt uns wie ein Geliebter. Sie nimmt unseren Samen auf, den Samen der Liebe, um uns strahlend neu erstehen zu lassen, diesen Sommer, dieses Jahr, diese Heilige Zeit auf ewige Zeiten fürderhin.«
Und die Menschen
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