Der Sommer der Toten
seiner Einbildungskraft werden. Im Augenblick wartete er noch in seinem Cadillac vor dem großen Friedhofstor. Dolph Pelser trieb inzwischen seine Helfer an.
»Macht weiter, schnell. Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit. Es wird schon heiß.«
In der Tat. Die Morgensonne stand bereits in den Wipfeln der Friedhofszypressen und ließ ihre heißen Strahlen durch die dunklen Nadeln tanzen.
Die Trauergemeinde war nun vollzählig. Die Älteren standen an Grabsteine gelehnt oder hatten sich einfach ins Gras gesetzt, was die Mißbilligung des Totengräbers und Friedhofwärters erregte. Da und dort wurde die Meinung laut, wie komisch es wäre, daß Mörder und Opfer Seite an Seite ihre letzte Ruhe finden sollten. »Das gibt eine Riesenüberraschung am Jüngsten Tag.«
Mitten in diese Überlegungen schlug die Tür des Cadillacs zu. Reverend Mauslocher spürte, daß nun der Zeitpunkt seines Auftritts gekommen war. Alle Anwesenden verstummten bei seiner Annäherung.
Der Priester stellte sich vor die zwei Särge, besprengte sie mit Weihwasser und stimmte die alte Formel an:
»Requiescat in pace.«
Darauf kam die Antwort: »Amen.«
Katie versuchte sich an Aggie zu erinnern, aber sie schaffte es nicht. Auch nicht an Butch. Aus irgendeinem Grund schien ihr Erinnerungsvermögen zu versagen. Vielleicht eine natürliche Schutzreaktion gegen den Kummer. Aber dennoch beunruhigend. Sie sah sich um, sah die nach vorne geneigten Menschen, die schlaffen, zitternden Gesichtszüge, offene Münder. Eine neue, verborgene Energie pulsierte hier, eine Energie, die sie zuvor nicht bemerkt hatte.
Reverend Mauslocher stürzte sich in ein neues Gebet. Hercules trat ein wenig zur Seite, dann einen Schritt vor, näher zu ihr hin.
»Barney«, flüsterte er warnend.
Katie sah sich so unauffällig wie möglich um. Da drüben, am Rande der Trauergemeinde, sah sie Barney, die Waffe an der Hüfte, zwischen dem alten Willis und Christ Gorman stehen.
»Was?« flüsterte sie.
Aber da sah Barney zu Hercules herüber, und der verängstigte Ladenbesitzer rückte so hastig von Katie ab, daß er fast über die eigenen Füße gestolpert wäre.
Reverend Mauslocher übergab das Weihwassergefäß einem Ministranten. Die Trauergemeinde wurde ganz still, und der Priester sah sie alle eindringlich an. Auf der Wiese jenseits der Friedhofsmauer trillerten die Lerchen.
»Wir sind fast am Ziel«, sagte der Priester leise. Sekundenlang begegnete er Katies Blick, und sah dann weg.
»Ihr Fluß steht still.« Er deutete auf die Särge.
»Aber der unsere fließt und ist noch in Bewegung.« Er vollführte eine entsprechende Geste.
Und die Menschen nickten. Sie begriffen den Sinn dahinter, begriffen etwas nicht Greifbares und Verborgenes, das Katie entging. Eine subtile Bedeutung, verhüllt und bedrohlich, erwachte, regte sich und atmete hinter dem wohltönenden Silbengeklingel des Priesters.
Katie sah Hercules an. Und gewann den Eindruck, seine verängstigten Augen flehten sie an, sie möge doch begreifen.
Und etwas, das hierher gehörte, fehlte.
»Wir stehen am Vorabend der Hohen Heiligen Zeit. Der glorreiche Sommer kehrt wieder, und so können auch wir wiederkehren. Wir, die wir das Licht versunkener Sommer kannten, die wir die Jugend ausgekostet haben und sie verbrachten im Dienste dieses Landes, unseres Bodens, unserer Erde … ja, wir, wir alle werden erhoben, verherrlicht.« Nach einem weiteren eindringlichen Blick fuhr er leiser fort: »Sie wird unsere Wegbereiterin sein, und sie wird nicht inmitten geweihter Lichter liegen.«
Und unter seiner Gemeinde herrschte keine Trauer, nicht einmal jener gequälte Ernst der meisten Beerdigungen, sondern vielmehr kaum unterdrückte Freude und Heiterkeit.
»Gewiß«, fuhr der Priester fort, »die Zeit ist ein seltsam Ding. Sie ist äußeres Merkzeichen und innerer Umstand zugleich, unserem Verständnis entzogen und doch bestimmt und präzise …«
Nein, es war nicht etwas, sondern jemand, der hier fehlte. »… und doch ist sie auch unverändert und dauernd veränderlich. Ein Widerspruch, der an der Wurzel unseres beständigen Glaubens nagt.«
Die Menschen sogen seine Worte begierig ein, die Aufregung wuchs und wurde immer spürbarer.
»Ja, und ich sage euch, die Zeit umfließt euch wie Wind, wie ein Fluß und trägt euch mit sich. Oder sie steht auf ewig still wie eine Erinnerung in den Höhlen eures Bewußtseins. Und wenn ihr hundert Jahre lebt, kann eine kleine feine Erinnerung sich stark und echt behaupten,
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