Der Sommer der Vergessenen: Band 1 von 2 (German Edition)
grauer Nebel aus Ohren und Nase des Sterbenden. Zielsicher schwebte er ans Ufer, formte vom Kopf abwärts die Silhouette des Nachtalben, die sich dann innerhalb eines Augenblicks verfestigte. Rolo hielt den toten Mann immer noch fest. Socke war es, der ihn befreite.
„ Lass ihn los, Rolo.“ Er führte Rolos Arm mit seiner Pfote, und der Leichnam trieb davon.
Driftwood wetzte den Hang hinauf. Kotze trieb noch immer wie ein Floß auf dem Wasser.
„ Alles in Ordnung, Kotze?“, rief Socke.
„ Brrr.“
„ Und da oben?“
„ Alles Matsche“, befand Driftwood. „Einer wurde schon behandelt. Kotze hat heute auf jeden Fall schon gegessen. Einer ganz sicher tot. Und der Mörder wird noch eine Weile schlafen, hat dann aber bestimmt Rückenschmerzen. Soll ich ihn töten?“
„ Auf keinen Fall!“, riefen Socke und Rolo wie aus einem Mund. „Wir sollten abhauen. Kotzes Geheul war bestimmt im ganzen Tal zu hören.“
Kapitel 26
„ Was war das?“ Grellon erblasste.
„ Ich weiß es nicht.“ Adalar spähte in die Richtung, aus der das Geheul gekommen zu sein schien.
„ Das war kein Wolf“, sagte Kilian.
„ Nichts, was von einer Mutter geboren wurde, kann so heulen“, meinte Blair.
Grellon bekam es mit der Angst zu tun. Er trat an Adalars Seite. „Was machen wir denn jetzt?“
Die Neolinga starrten ins Dickicht der Bäume.
„ Ich denke, wir sehen mal nach“, beschloss Adalar grimmig. „Kilian, wenn Grellon zurückfällt, bleibst du bei ihm. Los, Neolinga!“
Dann rannten sie los. Als Grellon sah, wie die Capes der Neolinga wehten, wie Fahnen glorreicher Königsreiche aus alten Zeiten, denen er in die Schlacht folgte, erwachte etwas in ihm, von dem er selbst nie gedacht hätte, dass es in ihm schlummerte.
„ Rolo“, hauchte er. Und dann lief er, wie er noch nie zuvor gelaufen war. Keiner musste auf ihn warten, und keine Baumwurzel brachte ihn je wieder zu Fall.
Kapitel 27
Rolo rannte, als ginge es immer noch darum, den tödlichen Pfeilen der Neolinga zu entkommen. Und obwohl er wie um sein Leben lief, waren die Alben um ein Vielfaches schneller. Doch sie achteten auf ihn. Wenn der Abstand zu groß wurde, blieben sie stehen, bis er wieder zu ihnen aufschloss. Sie hatten aller Heimlichkeit abgeschworen. Alles Schleichen war vergessen. Rolo wollte nur weg. Genug Distanz zwischen sich und das unsägliche Nachtschattental mit all seinen Mördern, Verschwörern und all seinem Schmerz bringen. Weg, um zu vergessen. Vor Rolos geistigem Auge starb der Neolinga immer und immer wieder. Das hatte nichts mit den Abenteuern zu tun, die er des Nachts im Bett las, mit der Taschenlampe unter der Decke. Hier starben Menschen. Lange bevor ihre Zeit gekommen war. Und um ein Haar hätten sie auch ihn getötet. Der Gedanke war zu mächtig, um ihn in seiner ganzen Endgültigkeit zu erfassen. Tränen vernebelten ihm die Sicht. Er konnte nicht weiter. Die nasse Kleidung klebte an seinem Körper, und trotz der Anstrengung zitterte er vor Kälte. Die Alben blieben stehen, als sie merkten, dass er nicht hinterher kam. Socke machte kehrt und kam im Dauerlauf zurück. Sein sonst so feines, helles Fell war rot verfärbt und nass von Blut und Wasser. Trotz ihrer wilden Flucht war er überhaupt nicht außer Atem.
„ Du frierst ja. Halte kurz still, ich will was probieren.“ Er sprach ein Wort, und Rolos Kleidung blähte sich auf, als hätte ihm jemand einen Föhn in Hemd und Hose gesteckt. Rolo betastete sich. Alles trocken. Schon fror er etwas weniger. Nur die innere Kälte, die blieb. Das schien auch Socke zu spüren.
„ Halte durch, Freund Rolo.“ Es klang wie eine Bitte. Die kullerrunden Augen des Nachtalben schauten ihn mit unendlicher freundschaftlicher Zuneigung an. Rolo konnte augenblicklich nur noch daran denken, wie enttäuscht und traurig Socke wäre, wenn er dem Drang nachgeben würde, sich aufzugeben. Wenn er sich wie eine Made hier im Dreck zusammenrollte und aufgab. Wenn dies ein Zauber war, dann war es ein guter. Denn die finsteren Bilder verschwanden aus Rolos Kopf, wie die Dunkelheit mit den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne verschwindet. Und der kleine Funke, den die Fürsorge eines Freundes erzeugen kann, entfachte das Feuer in Rolos Herz aufs Neue. Das Feuer, das man Mut zum Leben nennt. Rolos starrer Blick entspannte sich. Er wischte sich den Rotz von der Nase. Sein Gesicht war verschmiert von Dreck und Tränen. Doch er lächelte, und Socke lächelte auch. „Zurück aus dem
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