Der Sommer der Vergessenen (German Edition)
die Jahre wider der natürlichen Ordnung? Trauere
nicht um die Macht, welche Dir von dunkelster Seite zur Verfügung stand.
Niemals wieder wirst Du sie spüren. Aus eigenen Erfahrungen wissen wir, dass
auch einem Zauberer, entgegen vielen Behauptungen, nicht das Geschenk ewiger
Jugend vergönnt war. Jedoch verlief der Prozess der Alterung langsamer und
weniger harsch. Wir blieben beweglich, schwungvoll, frei von Gebrechen. Sei
Mensch, mein Bruder. Altern wirst Du, weiß werden, faltig und klapprig. So war
es gewollt, so wird es geschehen. Es ist schwer, nach all den Jahren einzusehen,
dass man stets ein Diener der finstersten Mächte war. Niemals kann aus dem
Schlechten das Gute erwachsen. Und schau über Deine Schulter.
Persönliche
Notizen von Schwarzer Laaber, letzter oberster Kanzlerder
Farralot, Neunseen, in den Zeiten des Wandels.
Hallimasch
schloss das Buch. Seit vielen Jahren gaben Laabers Ausführungen Anlass zur
Diskussion unter seinesgleichen. Wer weiß, unter welchem Zwang der alte
Zauberer damals bereits stand, der Macht beraubt und in Angst um das eigene
Wohl? Doch hatte Hallimasch die Zeilen gefunden, die er suchte: „Wir blieben
beweglich, schwungvoll, frei von Gebrechen.“ Er nahm die nutzlose Brille zur
Hand. „Könnte es sein? Ich muss mit Adalar sprechen!“ Er löschte das Licht und
verließ den Keller. In der Küche setzte er Teewasser auf. In dem kleinen
Spiegel über der Spüle erblickte er sein Gesicht. Ganz nah ging er heran und
strich sich mit der Hand über die tiefen Falten um seine Augen. Nach einer
Nacht wie der letzten sah er wirklich gezeichnet aus. Hallimasch dachte, dass
die Falten in seinem Gesicht die Landkarte seiner Seele waren. Aber dies war
ein wirklich wildes Land.
„Altern
wirst Du, faltig und klapprig“, wiederholte er. „Ewige Jugend ist nicht das,
wonach ich trachte. Es ist das innere Feuer, das flackert.“
Das Pfeifen
des Teekessels riss ihn aus seinen Gedanken. Er nahm ihn vom Feuer, und während
der Tee zog, kleidete sich Hallimasch in seinen grauen Anzug. Den Zylinder ließ
er weg, der war für besondere Gelegenheiten. Dafür kämmte er das lange Haar
streng nach hinten und band sich drei Zöpfe in den Bart. Er nahm den Tee und
verließ das Haus. Heute Vormittag waren die Straßen leer. Zweifelsohne hatte
die Feier des Vortages damit zu tun. So gerne Hallimasch auf einen Plausch
stehen blieb, heute begrüßte er die Leere. Er folgte der Straße am Spineus
entlang, überquerte eine kleine Brücke und bog ab Richtung Norden. Hier wurden
die Straßen breiter, und an der Ecke, direkt vor dem Laden von Bäcker Blomsch,
stand eine Gruppe von Leuten in Geschwätz vertieft. Diskutieren bestimmt
noch die Worte der Bendith Geserith. Er bog um eine weitere Kurve, nahm
eine Abkürzung über eine kleine Hecke, sprang über einen Bach und kletterte
leichtfüßig die steile Uferböschung rauf. Alles, ohne seinen Tee zu
verschütten. Dort stand das Haus Amber. Der altehrwürdige Kotten im Norden der
Stadt war eines der wenigen frei stehenden Häuser. Es war niedriger als die
schmalen Steinhäuser, und das alte Fachwerk war schief geworden über die Jahre.
Das bröckelige Mauerwerk war ein beliebter Nistplatz für Schwalben. Hallimasch
öffnete das quietschende Gartentor, schritt über den Kies und klopfte an die
Tür.
„Komm rein“,
rief eine Stimme aus dem Inneren.
Hallimasch
trat ein. Die gesamte Fläche des Hauses war ein großer Raum. Die zahlreichen
Fenster reichten bis zum Boden. Nach oben konnte man bis in den Giebel schauen.
Dies war das genaue Gegenteil von Hallimaschs Haus. Es war freundlich, hell und
geräumig. Neben dem offenen Kamin, am hinteren Ende des Raumes, saß Adalar.
„Nimm
Platz“, sagte er, ohne von seiner Lektüre aufzuschauen. „Hab dich schon
erwartet.“ Einige dunkle Strähnen seines langen Haares fielen ihm ins Gesicht.
Die beiden kannten sich so lange, dass Hallimasch die Unaufmerksamkeit des
Hausherrn nicht als unfreundlich empfand. Er nahm auf dem Sofa gegenüber dem
Schreibtisch Platz.
„Ist das
nicht ein Ärger?“, fragte Adalar und kritzelte seine Unterschrift auf ein
Pergament. Hallimasch nippte an seinem Tee und begann, seine Pfeife zu stopfen,
bevor er antwortete.
„Zum Henker,
wovon sprichst du?“
Adalar
blickte auf. „Weißt du eigentlich, dass du der Letzte bist, dem ich noch das
Rauchen erlaube in meinem Haus?“ Hallimasch lachte.
Adalar fuhr
fort. „Dann hast du es noch nicht gehört?“ Er legte seine
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