Der Sommer der Vergessenen (German Edition)
Er war oval wie ein Ei, seine Oberfläche glatt
und hart. Dann vibrierte er in Rolos Hand. Das Geräusch klang an der Luft wie
der Schrei einer Eule.
„Was zum
Henker ist das?“ Rolo wischte sich die nassen Haare aus der Stirn, wobei er
leicht die Beule streifte. Sie schmerzte. Im selben Augenblick durchzuckte Rolo
die Erkenntnis: „Damit hat das Mistvieh mich umgehauen!“ Wie eine fette Spinne
schleuderte er den Stein von sich. Er landete am Ufer und blieb im Gras liegen.
Plötzlich begann er, golden zu leuchten. Symbole, wie Kritzeleien, erschienen
auf seiner Oberfläche. Rolo dachte noch, dass manche aussahen wie auf den Kopf
gestellte Buchstaben, als die Stimme erklang.
„Driftwood?
Bist du da? Bitte kommen!“
Rolo watete
zum Ufer. Tropfnass stand er da, das sprechende Ei zu seinen Füßen. Die Helfer
waren mit Hwarf verschwunden. Er war allein. Das funkelnde Licht wirkte nicht
bedrohlich, und immer noch erklang die Stimme aus dem Inneren. Rolo beschloss
kurzerhand, dass all das trotz allem nicht übermäßig gefährlich sein könne.
„Huhuu.
Driftwood? Kotze?“
Und in dem
Moment, in dem er das Ei berührte, veränderte es seine Form. Aus der unteren
Hälfte schob sich eine Art Sprechmuschel hervor.
„Driftwood?
Ich mach mir Sorgen. Bist du da?“
Der Anrufer
schien langsam die Nerven zu verlieren. Seine glockenklare Stimme überschlug
sich vor Aufregung. „Driftwood, bitte kommen. Bitte kommen!“
„Hallo?“,
sagte Rolo zögerlich.
„Na endlich.
Was ist denn da los bei euch? Geht’s dir gut? Und Kotze? Ist dein Pelz nass? Du
erkältest dich doch so leicht.“
Rolo
stutzte. So ein Redeschwall. Er fand es eigentlich recht lustig. Und weil ihm
nichts Besseres einfiel, sagte er nur „Ja“.
„Ja? Was ja ?
Also der nasse Pelz. Kennst du noch die Magusch, die den Pelz trocknet. Ich
wette nicht. Hast du das Buch gefunden? Oder eine Spur?“
„Nein“,
erwiderte Rolo.
„Wie schade.
Wäre aber auch fast zu leicht gewesen. Der Meister hat sich auch nicht
gemeldet. Wo bist du jetzt? Noch in der Stadt? Konntest du mit jemandem
sprechen? Gab es Ärger? Ist wer verletzt?“
„Ja“, sagte
Rolo wieder.
„Ich wusste
es doch. Immer das Gleiche. Ich warne dich! Wenn es Tote gab, gibt es echt
Ärger. So geht das nicht. Was ist denn passiert?“
„Ein
Wächter“, sagte Rolo. Das war ja eigentlich die Wahrheit. Er wollte auch nicht
zu viel sprechen, um sich nicht zu verraten.
„Oh nein.
Ich hoffe nur, dass dich sonst niemand gesehen hat. Sonst geht der ganze
Schlamassel von vorne los. Von wo sprichst du?“
Rolo
betrachtete den Stein in seiner Hand.
„Vom Ei.“
„Vom Ei! Na,
das ist ja was. Dann ist es also ein Eiphon! Vielleicht finden wir ja noch
raus, was wir sonst damit anfangen sollen. Kommst du bald zurück? Ich mach dann
Frühstück. Pst! Da kommt jemand.“
Rolo hörte
einen Knall. Es klang, als hätte Socke den Hörer fallen lassen. Ein kurzer
Moment der Stille, dann erklang die Stimme von weiter weg.
„Ach Drift,
da bist du ja. Ich hab dich gerade hier am Baumfernphon.“
Dann eine
andere Stimme. Sie klang kratziger, dunkler. „Was? Du hast mich am was?
Verdammt, Socke! Ich bin doch hier! Leg auf. Los leg auf!“
Ein Knarren,
dann war die Leitung tot. Das Leuchten erlosch und das Ei schloss sich. Schon
sah es wieder aus wie ein Stein. Rolo steckte ihn in die Tasche. Rufe
erschallten von der Brücke.
„Da ist noch
einer. Hierher, schnell.“
Vielleicht
war es die Aufregung, vielleicht die Erleichterung, dass endlich Hilfe kam.
Rolo schwanden die Sinne, und er fiel ohnmächtig zu Boden.
Hallimasch
hatte bis in die frühen Morgenstunden getrunken und gelacht. Als er bemerkt
hatte, dass der Wein ihm zu sehr zu Kopf stieg, und weil er wusste, dass sein
Amt als Lehrer eine gewisse Würde verlangte, war er nach Hause gewankt. Das war
die beste Strategie, wenn man in einem kleinen Ort wie Neunseen bekannt war wie
ein bunter Hund. Jeder Fehltritt hätte sich rasend schnell herumgesprochen und
ihn dem Hohn und Spott seiner Schüler auf Wochen ausgeliefert. Er streckte sich
und tastete auf dem Nachttisch nach seiner Brille. Auch einem älteren Herrn wie
Hallimasch war sein Aussehen nicht egal, und so trug er sie nur zu Hause oder
zum Lesen. Er setzte sie auf seine Nase und stutzte. Das große Bild, welches
seit einer halben Ewigkeit am Fuße des Bettes die dunkle Steinwand zierte – es
zeigte einen als Clown verkleideten Lindwurm - war verschwommen. Er nahm die
Brille ab.
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