Der Sommer der Vergessenen (German Edition)
Hart schlug
er auf und blieb liegen. Er wusste später nicht mehr wie lange. Es kam ihm
endlos vor. Irgendwann entschied er, dass es ihm nicht gefallen würde, so
gefunden zu werden. Der Mond stand fahl am Himmel.Seine Augen gewöhnten
sich langsam an die Dunkelheit. Tiefer Wald.Rolo untersuchte sich.
Seine Arme waren von blutigen Kratzern überzogen. Seine Hose war zerrissen und
voller Schlamm. Sonst fehlte ihm nichts.Still war es hier. So still,
dass ihm mulmig wurde.Er dachte kurz daran, zurück zur Farindor zu
gehen. Nein. Sollen sie mich doch suchen! Um die Angst zu vertreiben,
bewaffnete er sich mit einem Stock. Er marschierte in die Richtung, in der er
Neunseen vermutete. Das Gelände war abschüssig. Unter dem verrottenden Laub
verbarg sich unebener Boden. Der Schreck über den Sturz steckte ihm noch in den
Gliedern. Das machte ihn langsam. Eine Eule rief in die Nacht. Entdecken konnte
er sie nicht. Ihm fröstelte. Ein feuchtes T-Shirt war nicht die richtige
Kleidung für eine Nachtwanderung. Er dachte an die Helden seiner Bücher. Ob
Robin Hood auch Angst gehabt hätte, allein im Wald. Nicht umsonst hatte er stets
Little John im Schlepptau. Der Gedanke ließ ihn schmunzeln und machte ihm Mut.
„Zu mir,
meine unsichtbaren Merry Men!”, rief er gegen die Stille des Waldes. Seine
Worte hallten durch die Nacht.Den Stock wie ein Schwert schwingend,
beschleunigte er seine Schritte. Bald wurde der Wald lichter. Der Mond erhellte
den Weg. Rolo erinnerte sich, dass er ihn über der Stadt scheinen sah. Jetzt
hatte er wenigstens eine ungefähre Richtung.Das Land leuchtete zart
silbern und sah verzaubert aus. Vereinzelte Baumgruppen standen als dunkle
Schatten am Wegesrand. Außer seinen Schritten hörte er nur den Wind, der durch
das hohe Gras fuhr. Ein Käuzchen rief. Wenn ein Kauz singt, muss jemand
sterben. Ich werde es nicht sein! Wo Mama jetzt wohl ist? Wieso hat sie sich
nie bei mir gemeldet? Vielleicht will sie mich nicht mehr. Oder Paps hat es
verhindert? Plötzlich veränderte sich etwas. Rolos Nackenhaare stellten
sich auf. Ich bin nicht mehr allein. Er ging weiter. Wie beiläufig
schwang er seinen Stock und schlug die Blüten der Blumen am Wegesrand von ihren
Stängeln. Dabei beobachtete er aufmerksam die Umgebung. Plötzlich flog das
Käuzchen laut zwitschernd davon. Jemand hat den Vogel aufgescheucht! Ein
Schatten zwischen den Bäumen. Groß, breitschultrig, mit Schlapphut. Rolo blieb
fast das Herz stehen. Aber dann erkannte er die Stimme.
„Ist da wer?
Natürlich ist da wer. Na lüg’ ich denn? Schon gut, mein junger Freund. Du hast
mich erwischt.”
„Solomon,
sind Sie das?”, rief Rolo.
„Bin ich
wohl.“ Solomon trat aus dem Schatten.
Rolo war
erleichtert, aber auch überrascht.„Ist Ihnen wieder ein Lämmchen
abhandengekommen?“
„Ein
Lämmchen? Ja, so könnte man es sagen. Wenn ich es recht bedenke, sind ständig
irgendwo Lämmchen verirrt, um die es sich zu kümmern gilt.”Er lachte.„Warum stapfst du hier allein durchs Dunkel. Wo ist dein Vater, der lustige
Kerl?“Rolo dachte wieder an den Streit. Er konnte seinen Ärger nicht verbergen.
„Er ist oben
in der Farralot. Ich wollte runter nach Neunseen. Wir haben uns gestritten.“
„Gestritten?
Es muss was Ernstes gewesen sein. Deine Miene verrät großen Kummer.” Der Alte
steckte seinen Stock in die Erde und ließ sich auf einem Stein nieder.
Rolo blieb
stehen. So waren sie fast auf Augenhöhe. „Solomon, sind Sie schon mal belogen
worden. Bei was richtig Wichtigem?“
„Belogen?
Hm, lass mich nachdenken. Mein junger Freund, wenn du mal so alt bist wie ich,
gibt es kaum etwas, das dir noch nicht passiert ist. Viel Schlimmes, aber auch
viel Wunderbares. Anders geht’s wohl nicht.”
„Aber sollte
ein Vater seinem Sohn nicht immer die Wahrheit sagen?“
„ Die
Wahrheit? Wenn du mich so fragst, bin ich versucht, dir zuzustimmen. Weil die
Wahrheit aber ein schwieriges Geschäft ist, muss ich wohl sagen, es kommt drauf
an.”
„Worauf soll
es denn da ankommen? Lüge ist Lüge.”
„Ist das so
einfach, mein junger Freund? Ich fürchte nicht. Dein Vater liebt dich, Rolo.
Mehr als du es dir vorstellen kannst. Er würde mit Drachen ringen, um dich zu
beschützen. Es ist sogar seine Pflicht, das zu tun, wenn du mich fragst.”
„Daran habe
ich auch nie gezweifelt.”
„Nie
gezweifelt? Gut so. Dann lass uns doch gemeinsam überlegen, was dein Vater für
eine Absicht hatte, als er dir die Wahrheit verschwieg. Kennst du
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