Der Sommer des Commisario Ricciardi
das lieber ist. Ich werde dir keine Ruhe lassen, weißt du, auch wenn ich dich direkt aus dem Präsidium entführen muss.«
Genau in dem Moment, als das Zauberwort fiel, tauchte neben Ricciardis Stuhl ein Engel auf, der ihn aus seiner Verlegenheit befreien würde – ein großer, dicker, verschwitzter Engel in Winteruniformjacke.
»Verzeihen Sie, Commissario, aber Sie sind nicht zurückgekommen, und da wollte ich Ihnen entgegengehen, für den Fall, dass was passiert ist. Ach, wenn ich nicht irre, sind Sie doch Signora Vezzi? So eine Überraschung! Was tun Sie hier?«
Ricciardi hätte Maione für sein Erscheinen umarmen können. Er stand schnell auf.
»Vielen Dank, Maione, dass du mich abholst. Wir müssen gleich weg. Die Signora macht Urlaub, wir haben uns zufällig getroffen. Jetzt ist’s allerdings Zeit, sich zu verabschieden.«
Livia war ebenfalls aufgestanden und lächelte dem Brigadiere zu. Ihre Eleganz und Geschmeidigkeit stachen so noch deutlicher hervor; sie sah wunderschön aus.
»Das stimmt. Ich bin hier in Ferien und werde wohl noch ein Weilchen bleiben. Bestimmt werden wir uns noch öfter sehen.«
Sie hatte laut gesprochen und Maione die Hand hingehalten, der sie ihr unbeholfen küsste. Völlig übergangslos, wie in Fortsetzung der Bewegung, die sie gerade ausgeführt hatte, wandte sie sich dann zu Ricciardi und küsste ihn auf die Wange: »Bis bald also.« Damit verließ sie unter den Blicken aller Anwesenden das Lokal.
Sie hatte ihn geküsst. Dieses Weibsbild hatte ihn geküsst, und das vor ihren Augen! Und was noch schlimmer war: Er hatte sich küssen lassen. Obwohl er sie gesehen hatte, da war sie sich sicher, denn ihre Blicke hatten sich gekreuzt.
Sie war von zu Hause weggegangen, um ihren Traum zu verteidigen, in der Absicht, sich zum ersten Mal im Leben mit ihrem Vater zu streiten, und jetzt war ihr Traum gerade vor ihren Augen in sich zusammengefallen. Sebastiano, der nicht im Mindesten ahnte, was um ihn herum geschah, plapperte sorglos weiter über Feste und Pferderennen; Enrica hatte kein einziges seiner Worte mitbekommen.
Ricciardi, blass wie der Tod, hatte sich zu ihr umgedreht und sah sie jetzt an. Sein Blick zeugte von einem unermesslichen Schmerz, als schaute er aus dem Fenster eines abfahrenden Zuges in dem Wissen, nie mehr zurückzukehren. Er führte seine Hand zur Wange und berührte sieleicht. Sacht schüttelte er den Kopf, als glaubte er nicht, was passiert war, oder als wollte er es damit ungeschehen machen.
Enrica stand auf. Um jeden Preis musste sie die Haltung wahren. Sie hatte das Gefühl zu sterben. Das Klavier spielte seit ihrer Ankunft immer noch dieselbe Melodie, die zwei Minuten erschienen ihr wie eine Ewigkeit. Sie wandte sich zu Sebastiano und sagte mit fester Stimme:
»Ich habe Kopfweh. Ich brauche frische Luft. Bist du so lieb und begleitest mich nach draußen?«
Dann verließ sie das Café an Sebastianos Arm, ohne Ricciardi noch einmal anzusehen.
XX Maione begleitete seinen Vorgesetzten zum Präsidium. Es war noch zu früh, um Capece beim Roma zu vernehmen, und außerdem wollte Garzo den Kommissar sehen, bevor sie mit dem Reporter sprachen.
Unterwegs dachte der Brigadiere ausnahmsweise einmal nicht an Hitze und Hunger, obwohl er beide gleichermaßen schlimm empfand. Er hatte sich gefreut, die Witwe des Tenors zu treffen, die sich schon früher für Ricciardi interessiert hatte. Maione erinnerte sich, ihm damals geraten zu haben, ein wenig aus sich herauszugehen und sich mit der Frau zu treffen, die ihm nicht nur schön, sondern auch nett erschien. Er erinnerte sich auch daran, dass sie Ricciardi nicht ganz kalt gelassen hatte, auch wenn dann nichts aus der Sache geworden war und sie wieder abreiste.
Im Gambrinus eben hatte allerdings etwas Sonderbares in der Luft gelegen. Es war ihm vorgekommen, als sei der Kommissar in Schwierigkeiten, so als habe man ihn auffrischer Tat ertappt. Wie konnte das aber sein, bei seinem zurückgezogenen Leben? Vielleicht hatte Maiones Erscheinen ihn in Verlegenheit gebracht und er wäre in einer so persönlichen Situation lieber nicht gesehen worden. Der Brigadiere zog es daher vor, die Begegnung mit der Signora nicht zu kommentieren.
Im Büro angelangt, trafen sie wie üblich auf Ponte, der sie schon ungeduldig erwartete, um sie zu Garzo zu begleiten. In seiner gewohnten Anspannung hopste der Mann nervös umher; sobald er sie sah, kam er auf sie zu.
»Commissario, Brigadiere, guten Abend. Doktor Garzo wartet
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