Der Sommer des Commisario Ricciardi
deine Worte zu erkennen, auch wenn du nicht sprichst, Mama. Einen Blick, eine Handbewegung zu deuten. Ich beobachte, in welche Zimmer du gehst und in welche nicht. Nach und nach lernt man dazu. Wir denken außerdem an dieselben Dinge, also denken wir auch gleich.
Heute Morgen spürte ich, dass du vorhattest, das Haus zu verlassen, und ich wusste auch, wohin du gehen würdest. Ich habe es am Knarren der Schranktür erkannt; es war der Schrank, den du sonst nie öffnest, der mit den alten Kleidern. Ich habe gehört, wie du dich auf einen Stuhl gestellt hast, um etwas aus der Hutschachtel zu holen. Du hast gesummt, da du glaubtest, dass wir noch schliefen. Und ich hatte recht.
Schritt für Schritt folgte ich dir auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig, versteckte mich hinter den Leuten; ich hätte dir aber auch vorausgehen können, so sicher war ich mir über dein Ziel. Dort waren dann all diese Menschen. Fast hätte ich dich aus den Augen verloren. Aber auch er war da, ich sah ihn, bevor ich dich sah. Ich habe mich nach hinten gestellt, euch beobachtet, so nah und doch so fern. Bin euch gefolgt, ohne euch aus den Augen zu lassen, jeder allein mit seinem Schmerz, mit seinem Verlust. Auch ich mit meinem.
Wir liefen zusammen. Aber jeder folgte einem anderen Trauerzug, Mama.
Jeder weinte um einen anderen Toten.
Maione war Capece durch die Gassen gefolgt, er merkte sehr bald, dass der Mann ziellos umherzog.
Ab und zu blieb der Redakteur stehen, zog ein Taschentuch heraus und trocknete sich das Gesicht; Schweiß und Tränen, dachte der Brigadiere. Irgendwann sah er ihn in ein Weinlokal einkehren. Er wartete etwa eine halbe Stunde. Als ihm klar wurde, dass Capece die Schenke nicht in einem Zustand verlassen würde, in dem er noch etwas Gefährliches anrichten konnte, ging er weiter.
Zwei Stunden später, nachdem er auf der Suche nach einem Alibi für Capece bereits die sechste Taverne abgeklappert hatte, war Maione zu der Überzeugung gelangt, dass seine Nachforschungen aus verschiedenen Gründen zu nichts führen würden. Er konnte nicht hoffen, das Misstrauen der Wirtshausbetreiber gegenüber der Polizei zu überwinden; jeder von ihnen hatte etwas zu verbergen oder sich zumindest für irgendetwas zu schämen. Außerdem gab es zu viele und zu verschiedene nächtliche Besucher, um sich an jeden einzelnen zu erinnern. Das Ende vom Lied: Der Brigadiere hatte furchtbar geschwitzt, das Wasser war ihm in Hektolitern im Mund zusammengelaufen beim Anblick von Gerichten jedweder Art, doch er hatte keinerlei Ergebnis erzielt.
Maione wischte sich die Stirn mit einem großen Taschentuch ab, lockerte seine Krawatte und fasste einen Entschluss: Es war an der Zeit, Bambinella noch einmal einen Besuch abzustatten.
XXVI Von der Küche aus beobachtete Maria Colombo ihre Tochter, die im Esszimmer drei Kindern Nachhilfe gab. Zwei davon waren Zwillinge, die Söhne eines wohlhabenden Holzgroßhändlers; der dritte, klein und dunkel mit sehr lebhaften Augen, war der Enkel der Pförtnerin.
Enrica erzählte ihr oft, wie unglaublich intelligent der Kleine sei. Obwohl er zwei Jahre jünger war als die Zwillinge, löste er dieselben Aufgaben in der Hälfte der Zeit. Während die Söhne des Holzhändlers Enrica ein gutes und regelmäßiges Einkommen einbrachten, erhielt sie von der Pförtnerin nur ein herzliches Lächeln und ihre Dankbarkeit.
Als die Mutter diesen Umstand Enrica gegenüber bemerkte, bekam sie zur Antwort, man lebe schließlich nicht vom Brot allein. Genau das brachte sie an ihrer Tochter zur Weißglut: Das Fehlen jedes Sinns fürs Praktische. Auch bei der Heiratsfrage, über die sie schon so oft gesprochen hatten, unterschieden sich die Ansichten der beiden Frauen in diesem wesentlichen Punkt: dem Sinn fürs Praktische. War es denn möglich, fragte sich Maria, dass sie als einzige in der Familie merkte, wie die Zeit und somit Enricas Jugend vergingen und dass ihre Tochter schon bald alt und verbraucht sein würde? Oder glaubte sie etwa, sie könne ewig auf den Märchenprinz warten?
Außerdem war die Schönheit ihrer Tochter von der Art, die nicht auf den ersten Blick ins Auge fiel; sie als Mutter gab das ohne Umschweife zu. Also hatte sie die Sache endlich in die Hand genommen und ihren Mann dazu genötigt, die Fiores einzuladen.
Einen ganzen Tag lang hatte sie entschlossen auf Enricas unvermeidliche Reaktion gewartet: Die Mutter wusste, dass sie trotz ihrer sanften, ruhigen Art keineswegs gefügig war und sich
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