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Der Sommer des Commisario Ricciardi

Der Sommer des Commisario Ricciardi

Titel: Der Sommer des Commisario Ricciardi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio de Giovanni
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sie die Piazza erreichten und Don Pierino seinen letzten Segen sprach, waren nur noch etwa fünfzig Personen anwesend.
    Genau zu diesem Zeitpunkt, kurz bevor die Gruppe sich in Richtung Hafen zerstreute, entdeckte Maione das Profil Capeces, dessen Gesicht durch eine dunkle Brille und die Krempe eines breiten Huts verdeckt war. Er erkannte ihn mehr an der Körperhaltung als an den Gesichtszügen, denn von den furchtbaren seelischen Qualen der letzten Tage hingen seine Schultern herab, und seine Beine waren etwas steif geworden. Der Brigadiere gab Ricciardi ein Zeichen und setzte sich hinter Capece in Bewegung: Er wollte sehen, wohin der Reporter ging.
     
    Du folgst ihm, gibst acht, dass er dich nicht sieht. Kein Problem für dich, denn du weißt, wie man unbemerkt bleibt; zu lange hast du dich selbst nicht wahrgenommen. Seine Nichtbeachtung hat dich unsichtbar gemacht.
    Mit Bedacht hast du ein schlichtes, dunkles Kleid gewählt, einen unmodernen Hut, alte, ausgebeulte Schuhe. Dich unters Volk gemischt. Du hast ihn gleich erkannt, noch bevor du ihn sahst, du kannst ihn spüren, brauchst dazu weder Augen noch Ohren.
    Lange hast du ihn von Weitem beobachtet. Hast seinen Schmerz in kleinen, bedeutungslosen Gesten ausgemacht.Niemand hat es begriffen, nur du. Im Grunde wart ihr auf diesem großen Platz voll Menschen nur zu dritt: er, du und sie. Wie immer, wie seit vielen Jahren. Du bist ihm auf seinem Weg gefolgt, die Sonne brannte, doch du bist stark geblieben. Einen Schritt machte sie, einen er. Einen du. Und natürlich hat niemand dich gesehen. Niemand hat dich erkannt. Ihr wart nur zu dritt.
    Aber für sie war es das letzte Mal. Du lächelst wieder, unter deinem Hut, in der glühenden Hitze.
    Im Grunde warst du es ihm schuldig.
     
    Ricciardi trat zu Don Pierino.
    »Ich wollte mich von Ihnen verabschieden. Ich kann mir vorstellen, dass das keine gewöhnliche Beerdigung war.«
    Der kleine Priester schwitzte reichlich unter dem Talar und den Paramenten. Er wirkte sehr traurig, ganz anders als sonst.
    »Wissen Sie, Commissario, eine Beerdigung ist immer schmerzhaft, das ist nur natürlich. Es ist ein Fest des Schmerzes, des Abschieds, des Loslassens. Meine Aufgabe besteht darin, die Menschen zu trösten, ihnen in einem düsteren Augenblick begreiflich zu machen, dass die Trennung nur vorübergehend ist. Man wird sich wiedersehen in einer besseren Welt. Vielleicht sind Sie nicht gläubig, Commissario, doch die Verstorbenen wiederzusehen ist möglich.«
    Ricciardi verzog das Gesicht.
    »Wer sagt Ihnen denn, dass ich nicht daran glaube, Pater? Kein Mensch weiß besser als ich, dass die Toten nicht vergehen, sondern eine sichtbare Spur des Schmerzes zurücklassen. Um diesem Schmerz abzuhelfen, sind wir ja da. Und die Justiz.«
    Don Pierino schüttelte den Kopf.
    »Die Gerechtigkeit, die den Schmerz auslöscht, ist eine andere. Sie ist nicht von dieser Welt. Diesmal habe ich mich allerdings fast überflüssig gefühlt. Zwar habe ich eine Schwester auf ihrem Weg zu einem schöneren Haus begleitet, doch um mich herum habe ich weder Liebe noch Schmerz gespürt. Nicht genügend jedenfalls. Niemand, der Trost brauchte, außer der guten Mariuccia Sciarra, doch ihr Leid ist das eines schlichten Gemüts, es vergeht so schnell, wie es kommt.«
    Genau diesen Aspekt hätte Ricciardi gerne vertieft.
    »Und doch finde ich es seltsam. Die Herzogin war bestimmt nicht sehr beliebt; aber nach dem, was ich hörte, war sie kaum so böse und niederträchtig, um keinerlei Freunde zu haben. Nicht einmal unter all diesen Leuten.«
    Der Pfarrer sah noch immer traurig aus.
    »Manchmal tut man Böses, ohne es zu merken. Eine große List des Teufels, Commissario: Es wundert mich, dass Sie das nicht wissen, obwohl Sie jeden Tag mit ihm zu tun haben. Er mischt das Böse unter das Gute, den Schmerz unter die Liebe. Und versteckt ihn, lässt ihn in allem gleich erscheinen. Und so wird durch eine blinde Liebe der Schmerz eines anderen Menschen hervorgerufen, sorgt man lachend für Tränen. Denken Sie darüber nach, Commissario. Wer weiß, ob die Antwort auf Ihre Fragen nicht hier zu finden ist.«
    Nachdem er das gesagt hatte, bestieg Don Pierino den Kutschersitz des Leichenwagens und brach auf in Richtung Poggioreale. Dieser letzte Teil der Reise war nur ihm vorbehalten.
     
    Ich bin dir gefolgt. Habe gewartet, bis du weggingst, mich bei meinen Freunden glaubtest. Dabei hatte ich mich in einem Torbogen versteckt und gewartet.
    Mit der Zeit habe ich gelernt,

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