Der Sommer des Commisario Ricciardi
bisschen Geduld bitte: Ich muss die Dinge auf meine Art erzählen, sonst verliere ich den Faden. Also, wie dem auch sei, meine Freundin, Gilda heißt sie, hat eine tolle Karriere hingelegt und ist jetzt in einem Bordell in Torretta, sie macht ganz schön Kohle, nennt sich Juliette. Ich weiß nicht mehr, wann genau sie als Dienstmädchen bei den Capeces war, aber sie kann Ihnen bestimmt ein bisschen mehr erzählen.«
Maione schüttelte bewundernd den Kopf.
»Wirklich, Bambinella, manchmal kommst du mir vor wie eine Spinne in ihrem Netz: Was du nicht weißt, weiß sicher jemand, den du kennst. Bring mich doch bitte sofort zu dieser … diesem Fräulein, wie hieß sie gleich, Gilda Juliette; vielleicht löst sich dann das Rätsel Capece.«
Ricciardi wusste sehr gut, wo er hingehen musste, um den Mord an Adriana Musso di Camparino allmählich besser zu begreifen. Er musste sich auf den Heimweg machen. Genauer gesagt musste er den Weg rekonstruieren, den er in der Nacht zuvor in seiner Schlaflosigkeit zufällig eingeschlagen hatte.
Während er die Via Toledo hinauflief, schwer atmend und sich möglichst im Schatten der Häuser haltend, dachte er über den Gefühlsreigen um die Herzogin und ihren Tod nach. Eine Frau, die sich ihrer Schönheit bedient hatte, um bis in die höchsten Sphären der Gesellschaft aufzusteigen, sich zu vergnügen, andere in ihren Bann zu ziehen. Und die dann zur Sklavin, zur Gefangenen der Leidenschaften wurde, welche ihre Schönheit entflammt hatte.
Liebe ist eine Sache, Leidenschaft eine andere, dachte Ricciardi. Darin besteht der wahre Unterschied.
Nehmen wir zum Beispiel meine Gefühle für Enrica. Ich möchte ihr Bestes, und wenn der junge Mann sie glücklich machen kann, sollte auch ich glücklich sein. Vielleicht ist das Liebe. Dann wäre da allerdings noch die Leidenschaft, dieser körperliche Schmerz, der Stich im Magen. Der Anblick ihrer Augen voller Tränen, die Leere im Herzen, die Sehnsucht. Nachts nicht schlafen zu können, umherzuirren, das Gefühl des Bedauerns, obwohl es nichts gibt, dem man nachtrauern könnte.
Die Leidenschaft birgt das Verbrechen, überlegte er. Vielleicht habe ich die Liebe in all diesen Jahren für etwas verantwortlich gemacht, für das sie keine Schuld trägt. Doch wie lässt die Leidenschaft, das Begehren, sich abstellen? Möglicherweise durch eine andere Passion. Ricciardis Gedanken schweiften unwillkürlich zu Livia, ihrem bezaubernden Lächeln, dem Grübchen am Kinn, ihrem betörenden Duft. Und zu den langen Beinen in Seidenstrümpfen, ihrem geschmeidigen Gang.
Ganz besonders gegenwärtig war ihm der flüchtige Kuss, den sie ihm zum Abschied auf die Wange gedrückt hatte, als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt. In seinem Gefühlswirbel um Enrica war ihm dieser Kuss zunächst peinlich, ja fast unangenehm gewesen. Jetzt allerdings, als er sich unterwegs daran erinnerte, spürte er erneut ihren Atem und den sanften Druck ihrer Lippen. Wie immer hatte er zu schroff reagiert, was ihm nun leidtat.
Es hätte keinen Sinn gehabt, zu ihr zu gehen; doch für den Fall, dass er sie wiedersehen sollte, nahm er sich vor, sich zur Abwechslung einmal bereitwillig auf ihre Gesellschaft einzulassen. Livia war anders als Enrica: eine starke, unabhängige Frau; er würde ihr wohl kaum wehtun können. Die Beziehung hatte keine Zukunft, dachte er, aber vielleicht taugte sie ja für die Gegenwart.
In der Nähe seines Ziels angelangt, versuchte der Kommissar, sich wieder auf seine Arbeit zu konzentrieren.
Liebe oder Leidenschaft, dachte er.
Wir wollen sehen, mit welchem Ungeheuer wir es zu tun haben.
XXVII Mit Bambinella durch die Stadt zu laufen war etwas, auf das Maione gut verzichten konnte. Er legte weder Wert auf das zweideutige Erscheinungsbild, die auffällige Kleidung und dicke Schminke des jungen Mannes noch auf dessen schrille Stimme und Dutzende von Bekannten, die an jeder Straßenecke ausgiebig begrüßt werden mussten.
Auch dem Transvestiten half es nicht unbedingt, seinen engen Kontakt zur Polizei öffentlich zu machen, auch wenn dieser sich ausschließlich auf den Brigadiere bezog. Daher beschlossen die beiden einvernehmlich, sich direkt in La Torretta zu treffen, dem Arbeiterviertel nahe der Bucht von Mergellina, wo sich das Bordell befand, in dem Gilda nun arbeitete.
Maione kam als Erster an. Unterwegs hatte er kurz bei einem Obst- und Gemüseladen angehalten und dort zwei Pflaumen und eine Aprikose verschlungen;
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