Der Sommer des Commisario Ricciardi
einigen Schwierigkeiten wiedergefunden. Bei Tag sahen die Häuser anders aus als in der Nacht, wenn man sie nur im Licht der Straßenlaternen sehen konnte. Er betrat den Innenhof, wo es zum Glück schattig war; nahe dem Eingang befand sich eine Portiersloge. Der Pförtner, ein großer und dicker junger Mann, kam ihm mürrisch entgegen und fragte ihn, was er wünsche. Ricciardi wies sich aus:
»Ich bräuchte ein paar Informationen. Wer wohnt in diesem Gebäude?«
Der junge Mann musterte ihn von Kopf bis Fuß; er zögerte mit der Antwort. Im Haus hörte man jemanden auf dem Klavier eine ziemlich abgehackte Tonleiter spielen. Die beiden sahen sich in die Augen. Schließlich sagte der Pförtner:
»Warum, wen suchen Sie denn?«
Ricciardi begriff, dass er das Hindernis sofort aus dem Weg schaffen musste.
»Hören Sie: Wenn Sie meine Fragen beantworten, sind wir schnell fertig und ich brauche Sie nicht länger zu belästigen. Wenn Sie allerdings Spielchen spielen, werde ich dienstlich wiederkommen und bringe Sie zu einem Ort, wo Sie verpflichtet sind zu antworten. Sie haben die Wahl.«
Es war schwer, Ricciardi Widerstand zu leisten, wenn er einem mit festem Blick seine Entschlossenheit entgegenzischte. Der Pförtner bildete keine Ausnahme. Er schlug die Augen nieder und antwortete:
»Zu Ihren Diensten, Commissario. Fragen Sie nur.«
So erfuhr der Polizist, dass in dem Haus, das nicht weit vom Konservatorium entfernt lag, zwei Familien mit kleinen Kindern, ein pensionierter Witwer und einige Musikstudentinnen wohnten.
»Sie hören sie gerade üben«, präzisierte der Mann.
Im ersten Stock befanden sich die Büros einer Reederei, die zurzeit geschlossen waren.
»Wissen Sie«, fragte Ricciardi, »ob gestern im Haus gefeiert wurde? Mit Musik und geladenen Gästen, bis spät in den Abend? Und mit wichtigen Leuten?«
Der Pförtner zuckte mit den Schultern.
»Nicht dass ich wüsste, Commissario. Ich wohne nicht hier und gehe abends nach Hause. Ich habe Familie. Wenn Sie allerdings sagen, dass gestern bis spät gefeiert wurde, hätte sich heute Morgen ganz sicher jemand beschwert. Sehr merkwürdig.«
Ricciardi dachte schon, dass seine Müdigkeit in der vergangenen Nacht ihm einen Streich gespielt oder er sich nicht richtig an das Haus erinnert hatte. Gerade, als er sich verabschieden und weiter nach einem ähnlichen Eingangstor suchen wollte, sagte der Mann:
»Es sei denn … es kann schon mal spät werden oben im letzten Stock. Aber Musik? Das finde ich merkwürdig.«
»Warum, was ist denn im letzten Stock?«
Der Pförtner, der nun betont leiser sprach und nach oben schaute, raunte:
»Die Partei ist dort. Der Sitz der Partei.«
Maione und Bambinella folgten dem breiten Hintern Annunziata Caputos alias Madame Yvonne eine weitere steile Treppe hinauf. Oben gingen sie einen schmalen Gang entlang, auf dem sich zu beiden Seiten geschlossene Türen befanden. Er führte zu einem kleinen Raum mit großem Fenster; dahinter war das Meer zu sehen. Die Luft roch frisch und sauber und schmeckte salzig, aus der Ferne tönten die Schreie von Möwen und spielenden Kindern.
An einem Tisch in der Mitte des Zimmers saßen einige Mädchen, die lachend miteinander schwatzten und dabei rauchten. Einige waren barbusig, die meisten suchten in der Nähe des Fensters etwas Abkühlung. Als der Brigadiere hereinkam, setzte trotz des Beiseins der Chefin ein ängstliches Gekreische ein; die Mädchen bedeckten sichso gut es ging und verkrochen sich in die hinterste Ecke des Zimmers. Madame versuchte sie zu beruhigen und sagte:
»Keine Sorge, meine Damen, der Brigadiere will niemanden festnehmen. Er möchte nur mit …«.
Maione unterbrach sie müde:
»Lassen Sie mich raten, Signora: Juliette ist sie da, nicht?«
Auf einem Sofa an der Wand, ein wenig abseits, war eine halbnackte, dralle Blondine damit beschäftigt, ein großes Stück Brot mit Tomatensauce zu vertilgen.
»Tut mir leid, Brigadiere, aber heut’ Morgen war das hier der reinste Taubenschlag. Im Hafen ist ein Handelsschiff eingelaufen – über 300 Matrosen, die seit einem Jahr kein Land gesehen haben. Genuesen, Portugiesen, Russen: das reine Babylon! Ich hatte nicht mal Zeit zu essen, das ist meine erste Verschnaufpause. Es heißt, dass die Bordelle in ganz Neapel so überlaufen sind.«
Bambinella hörte seiner Freundin gebannt zu, als erzählte sie von einer Safari in Äquatorialafrika, und warf Maione stolze Blicke zu.
»Aber nein, ich bitte dich, uns tut’s
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