Der Sommer des Commisario Ricciardi
leid, dass wir um diese Uhrzeit einfach so hereinschneien. Der Brigadiere möchte dir ein paar Fragen stellen; keine Sorge, du kannst ihm freiheraus antworten, er ist vertrauenswürdig.«
Maione schnaubte verärgert, während er einen flüchtigen, leidenden Blick auf den Rest des Tomatenbrots warf, das nun auf dem Tisch lag.
»Das hat mir gerade noch gefehlt: eine Empfehlung von Bambinella! Also, mein Fräulein, wie heißen Sie?«
Juliette lachte und warf ihre Haare zurück.
»Oh, Brigadiere, bitte: Duzen Sie mich doch, sonst kommt’s mir vor, als würden Sie mit Madame sprechen!«
Die junge Frau erwies sich als sympathisch und intelligent. Ihr Name war Gilda, wie Bambinella gesagt hatte, und sie stammte aus dem Bahnhofsviertel. Sie war das fünfte von neun Geschwistern und hatte mit sechzehn Jahren begonnen, als Dienstmädchen zu arbeiten, weil ihre Familie sie nicht länger ernähren konnte. Jetzt, mit zweiundzwanzig, verdiente sie in ihrem Gewerbe genug, um die vier jüngeren Geschwister und ihre Mutter zu unterhalten. Ihr Vater war vor drei Jahren verschwunden, und sie hatten nichts mehr von ihm gehört. »Entweder er ist tot oder er hat sich eingeschifft«, sagte sie, ohne mit dem Kauen aufzuhören und ohne einen Anflug von Bedauern.
Als sie beschlossen hatte, sich zu verdingen, war sie gleich von der Familie Capece eingestellt worden, deren Einkommen aufgrund der glänzenden Karriere des Familienoberhauptes bei der Zeitung kontinuierlich anstieg. Gilda beschrieb einen nicht vermögenden, aber hoffnungsvollen Haushalt, in dem stets gelacht und an allem gespart wurde. »Aber das war nicht schlimm«, sagte sie, »denn die Signora half mir bei der Hausarbeit und ich half ihr mit den Kindern.«
Die Capeces hatten zwei Kinder: Andrea und Giovanna, der Junge war der Ältere. Als Gilda ihre Stelle nach einem Jahr aufgab, war Andrea zwölf und Giovanna sieben Jahre alt.
»Also sind sie jetzt sechzehn und elf«, rechnete Maione.
»Ja«, sagte Gilda. »Er ist wirklich ein hübscher Junge.Wer weiß, ob er demnächst nicht vielleicht hier vor mir steht.« Gilda wusste, was aus Andrea geworden war, weil sie die Familie, an der sie sehr hing, bis vor ein paar Jahren noch hin und wieder besucht hatte.
»Dann wollte ich aber nicht mehr hingehen. Das letzte Mal war einfach zu schrecklich«, fügte sie hinzu.
Maione verstand nicht.
»Was war denn daran so schrecklich?«
Gilda schien bei der Erinnerung an den Besuch trotz der Hitze zu schaudern.
»Es war, als würde man Tote besuchen. Alles hatte sich verändert.«
»Wie denn? Wie meinst du das?«
Die junge Frau zögerte mit der Antwort. Bambinella, der neben ihr saß und ihre Hand hielt, drückte diese kurz, um ihr Mut zu machen. Gilda sah die Freundin an und fuhr fort:
»Früher waren sie eine arme, aber fröhliche Familie gewesen. Sie behandelten mich wie eine Tochter, wir hatten viel Spaß zusammen. Die Signora hat mir alles beigebracht: das Kochen, das Nähen. Sie sagte, später, wenn ich heiraten und Kinder kriegen würde, könnte ich dann alles selbst machen. Aber dann … ist mein Leben ganz anders verlaufen. Ich bereue nichts, das ist sicher. Aber ich habe gedacht, dass Signora Sofia, die Ehefrau, mir den Kopf waschen würde, mir sagen würde, dass ich einen Fehler gemacht hatte.«
»Und?«
»Stattdessen ließ sie mich im Wohnzimmer Platz nehmen, wie eine Dame. Ich fühlte mich nicht wohl, wollte lieber in die Küche gehen. Sie aber hat gesagt: ›Nein, setzdich hierhin. Du hast’s richtig gemacht, nur mein Leben ist falsch.‹ Und das Haus …«
Maione hörte aufmerksam zu.
»Was war mit dem Haus? War etwas passiert?«
Gilda schüttelte ihr blond gefärbtes Haar.
»Nein, nein, nichts war passiert. Es war alles gleich geblieben. Aber es schien so … so leblos, wie tot. Giovanna, die dasaß und lernte, war kreidebleich, sie begrüßte mich kaum. Andrea drückte mich fest und verließ sofort das Zimmer, ich hatte das Gefühl, er schämte sich. Und die Signora redete und redete, fast, als wollte sie gar nicht mehr aufhören.«
»Worüber sprach sie denn?«
»Über die alten Zeiten, als ich noch bei ihnen war. Sie erzählte von ihrem Mann, als wär er gestorben, eine Erinnerung aus längst vergangenen Zeiten. Da war kein Hass. Sie hat nichts gesagt, aber vielleicht dachte sie sich, dass ich sicher über die Herzogin Bescheid wusste. Alle wissen davon. Sie ja auch, Brigadiere. Ihr Blick war ausdruckslos. Als ob man ihr das Herz herausgerissen
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