Der Sommer des Commisario Ricciardi
den Kopf geschüttelt hatte. Wer ist dieser Mann?, fragte sie sich. Was hatte er getan, um ihr so wichtig zu sein, ohne dass je etwas zwischen ihnen gewesen war?
Im Licht der aufgehenden Sonne stand sie auf dem Balkon ihres Hotelzimmers und bemerkte, dass sie weinte. Einfach so.
Ricciardi erreichte das Herrenhaus der Camparinos, als die Kirchenglocke gerade neun Uhr schlug. Sciarra kam ihm mit einem Reisigbesen in der Hand entgegen, gefolgt von seinem quengelnden Sohn.
»Guten Morgen, Commissario. Was kann ich für Sie tun?«
Ricciardi wies mit einer Kopfbewegung auf den Jungen, der seinen Vater am Ärmel zog, wodurch dieser im Vergleich zum Arm des Pförtners nur noch länger wurde.
»Warum weint der Kleine denn?«
Sciarra verzog die Lippen unter seiner riesigen Nase zu einem komischen Grinsen.
»Ach, warum schon? Aus demselben Grund wie sonst auch: Er hat Hunger und will was zu essen von mir. Was soll ich machen, wenn er nie genug hat?«
Der Junge protestierte schluchzend:
»Das stimmt nicht, Papa, Lisetta isst mir immer alles weg und kriegt nie geschimpft.«
Der Vater sah ihn ungehalten an.
»Du schlägst genau nach deiner Mutter: ständig am Heulen. Am Heulen und am Essen. Nun, Commissario, wie kann ich Ihnen helfen? Möchten Sie mit Donna Concetta sprechen? Ich rufe sie Ihnen sofort.«
»Nein, rufen Sie niemanden. Ich möchte zuerst mit Ihnen sprechen.«
Sciarra wurde kreidebleich im Gesicht und schluckte.
»Wie? Mit mir? Aber ich hab Ihnen doch schon alles gesagt, was ich weiß, auch dem Brigadiere Marrone …«
Ricciardi zwang sich, nicht zu lachen.
»Maione ist sein Name. Ich muss Ihnen noch ein paar Fragen stellen. Wo können wir uns hinsetzen?«
Das Männlein zögerte, schaute sich um und antwortete:
»Bitte nehmen Sie doch bei mir Platz, in der Pförtnerloge am Eingangstor. Ich geh noch einen Stuhl holen und schicke diese Nervensäge zu seiner Mutter, dann können sie gemeinsam flennen und sind glücklich.«
Nach wenigen Minuten kehrte er zurück; er schwankte unter dem Gewicht eines Stuhls, den er aus der Küche mitgebracht hatte. Der Hut saß ihm falsch herum auf dem Kopf und verdeckte ihm die Augen.
»Legen Sie los, Commissario«, seufzte er beim Hinsetzen.
Ricciardi wartete, bis er sich die Uniform gerichtet hatte, indem er die Ärmel hochschob und die Mütze herumdrehte. Dann sprach er.
»Also gut, Sciarra: Reden wir über Herrn Ettore. Ich muss wissen, wohin er geht, womit er seine Zeit verbringt. Was er macht und was nicht. Möglichst alles.«
Sciarra wirkte ratlos.
»Aber ich weiß doch fast nichts darüber. Er ist immer allein da oben, auf seiner Terrasse …«
Ricciardi unterbrach die Litanei entschieden durch seine erhobene Hand.
»Damit es gleich klar ist: Wenn Sie nichts sagen wollen,schnappe ich Sie mir und loche Sie ein. Das ist ruck, zuck! erledigt. Es kann nicht sein, dass Sie Pförtner sind und nicht Bescheid wissen. Ich weiß ganz sicher, dass er ein und aus geht, das Haus oft und gern verlässt. Also verzapfen Sie keinen Unfug, und vor allem stehlen Sie nicht meine Zeit.«
Sciarra krümmte sich, als hagelte es Schläge und Tritte auf ihn herab.
»Commissario, verstehen Sie mich doch: Ich bin auf die Stelle angewiesen; ich darf meine Arbeit nicht verlieren. Sie haben keine Ahnung, was mich meine Kinder kosten, wo soll ich denn hin mit ihnen?«
»Wenn Sie Ihre Stelle wirklich behalten möchten, sagen Sie mir lieber, was ich wissen will.«
Das Männlein gab einen tiefen Seufzer von sich.
»Also gut, wie Sie wollen. Eigentlich sehe ich ihn selten, er verbringt den ganzen Tag auf der Terrasse, allein. Er kümmert sich um die Pflanzen, gießt sie selbst. Hilfe möchte er keine. Einmal stand mein Sohn, der Älteste, an seiner Tür, weil er glaubte, jemanden weinen gehört zu haben. Da hat er ihn in hohem Bogen rausgeschmissen, das Kind ist mir die ganze Treppe heruntergefallen … Er sagte zu ihm, dass er gefälligst bleiben soll, wo er hingehört, dass er es nicht wagen sollte, auch nur einen Blick in seine Zimmer zu werfen. So ist er, der junge Herr: Einmal lächelt er, zwinkert einem zu, schenkt den Kindern Bonbons. Dann wieder scheint’s, als hätt’ man ihm jemanden umgebracht, und er wirft einem so hasserfüllte Blicke zu, dass die Kinder heulend zu ihrer Mutter rennen.«
Ricciardi wollte auf etwas anderes hinaus.
»Lassen wir mal die Launen beiseite. Ich würde gernwissen, wohin er geht, wenn er spätabends das Haus verlässt.«
Sciarra riss die
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